10 Jahre Bremer Modell – Weil wir es können!
Veröffentlicht · Aktualisiert
Im Bundesland Bremen werden Asylbewerber*innen seit mittlerweile 10 Jahren mit einer Versichertenkarte versorgt. Warum nicht auch überall anders in Deutschland?
Ein*e Asylbewerber*in braucht manchmal ärztliche Behandlung. Wie jeder Mensch eben. Nur kann ein Asyl suchender Mensch bei weitem nicht überall in Deutschland einfach eine Arztpraxis aufsuchen wenn er oder sie krank ist. In den meisten Bundesländern müssen Asylbewerber*innen vorher einen Berechtigungsschein vom Amt besorgen, mit dem sie dann in der Praxis vorstellig werden. Für jeden anderen Menschen ist dann auf den ersten Blick erkennbar, dass dieser Hilfesuchende nicht „normal versichert“ ist, sondern ein Sonderfall. Einer der extra um die Behandlung bitten muss. Der betreffende Mensch ist stigmatisiert, und er kann sich nicht dagegen wehren.
In Bremen ist das bereits seit 2004 nicht mehr so, und 2012 hat auch Hamburg einen entsprechenden Vertrag mit der AOK Bremen/Brhv. abgeschlossen. Diese stattet im Auftrag der beiden Länder alle dort lebenden Asylsuchenden mit einer Krankenversicherungskarte (jetzt eGK) aus. Sie können damit wie alle anderen eine Arztpraxis aufsuchen und sich behandeln lassen, ohne die abwertenden Blicke der anderen Patienten ertragen zu müssen. Lediglich auf dem Chip ist ein bestimmter Abrechnungsstatus für das Praxispersonal erkennbar.
Warum nur in Bremen und Hamburg? Wie kommt das? Auf der Veranstaltung des Bremer MediNetzes am 21.03.2015 „Bremer Modell und Gesundheitskarte für Asylsuchende“ sollte diese Frage erörtert werden. Hierzu waren insgesamt etwa 30 Gäste aus Baden-Württemberg, Berlin, Bonn, Düsseldorf, Hannover, Hamburg und Kiel angereist. Darunter hauptsächlich Vertreter der MediNetze, aber auch der Sozialleistungsträger, wie auch politischer Parteien (LINKE, Piraten).
Warum machen wir in Bremen das? Weil wir es können!
Die Antwort, die Thorsten Schönherr als Referent der AOK Bremen/Brhv. darauf gab, war: „Weil wir es können!“ Und im juristischen und praktischen Kern sieht der Sachverhalt auch tatsächlich genau so aus, erstaunlich aber wahr.
Der Referent des Sozialressorts, Holger Adamek, stellte den außer Frage stehenden Nutzen für das Sozialamt vor:
- Der Verwaltungsaufwand innerhalb des Sozialamtes hat sich deutlich verringert, da die Betreuung, Abrechnung und der Kontakt mit den Leistungserbringern an die AOK Bremen/Brhv. abgegeben wurde und deren Kompetenzen genutzt werden
- Personal- und Sachkosten konnten reduziert werden, da u.a. eine spezielle Softwarelösung nun nicht mehr benötigt wird
- Auch die pauschale Verwaltungskostenausgleich an die AOK führte zu keiner Kostensteigerung
Der Nutzen für die Krankenkasse wurde von Thorsten Schönherr zusammengefasst:
- Ausschöpfung der Kompetenzen und Ressourcen
- Positionierung und Stärkung der AOK Bremen/Brhv. am Markt
Durchweg positive Erfahrungen – auf allen Seiten!
Die Erfahrungen der beiden Vertragspartner AOK Bremen/Brhv. und Land Bremen sind durchweg positiv. Ebenso die der Leistungserbringer, denn auch für sie ist die Abrechnung nun sehr viel unkomplizierter. Das Bremer Modell ist ein WinWin für alle Beteiligten, vor allem aber für die Asylsuchenden.
Die am häufigsten gestellte Frage oder Befürchtung ist die der Angst vor Leistungsmissbrauch. Doch auch hier konnte Herr Adamek Entwarnung geben: Dieser konnte im Vergleich zum alten Abrechnungsverfahren über den Berechtigungsschein rechnerisch bisher nicht ausfindig gemacht werden. Die elektronischen Gesundheitskarten werden über die AOK gesperrt, sobald sich die Versorgungsvoraussetzungen bei der Person geändert haben. Genau wie bei jedem gesetzlich Krankenversicherten auch. Davon abgesehen lässt sich ohnehin kein System vollständig gegen Missbrauch absichern.
Im Anschluss an die Vorträge wurde in Diskussionsrunden über Details und weitere Themenfelder wie z.B. die Umsetzbarkeit des anonymisierten Krankenscheins für Menschen ohne Papiere oder gültigen Aufenthaltsstatus gesprochen.
Der politische Wille auf Bundesebene und in den meisten Ländern fehlt – die Rechtsgrundlage ist da
Warum also wird das Bremer Modell nicht mittlerweile im ganzen Bundesgebiet umgesetzt? Auch diese Frage ist recht einfach zu beantworten: Weil der politische Wille fehlt.
Die Rechtsgrundlage, auf deren Basis der Vertrag zwischen dem Land Bremen und der AOK Bremen/Brhv. beruht, ist der §264 Abs. 1 SGB V. Eine bundesweite Rechtsgrundlage also. Nicht mehr. Und es handelt sich hier auch nicht um eine neu geschaffene Grundlage, die sich eine amtierende Regierung eventuell gerne zuschreiben möchte.
Die Argumentation der Landesregierungen, es fehle eine Rechtsgrundlage, ist also schlicht und ergreifend falsch. Die politische Farbenlehre stellte auch auf dieser Veranstaltung wieder anschaulich dar, dass schwarze Landesregierungen hier am wenigsten oder gar kein Interesse an Gesprächen zu diesem Thema haben. Aber auch Landesregierungen unter anderer Führung haben dieses Thema kaum auf dem Zettel.
Aber es gibt auch ein paar tatsächliche Hürden die es bei einer Einführung des Bremer Modells vor Allem in Flächenländern zu beachten gilt. Das betrifft die Organisation in den Erstaufnahmestellen sowie der Sozialleistungsträger, und natürlich auch die personelle, fachliche und technische Umsetzung bei einer ansässigen Krankenkasse. Und in Bremen entspricht die kommunale Ebene, die für die Asylsuchenden zuständig sind, der des Landes, weshalb der Vertragsabschluss problemlos möglich war. Das ist ein großer Vorteil gegenüber den Flächenländern, so dass diese hier eine andere vertragliche Lösung finden müssen.
In Bremen kam damals der erste Impuls von Herrn Adamek selbst aus dem Sozialressort. Dort stellte mensch sich die Frage, ob es nicht eine bessere Lösung als den enormen Verwaltungsaufwand des Berechtigungsschein-Verfahrens geben kann. Daraufhin wurden mehrere Krankenkassen vor Ort angesprochen, von denen die AOK Bremen/Brhv. als Einzige Interesse zeigte. Dann folgten die Vertragsverhandlungen, und voilá! Das Bremer Modell ging an den Start.
Was muss die Politik tun?
Wie kann eine politische Forderung und eine verbindliche Regelung für die Flächenländer also aussehen?
Da die Kommunen Selbstbestimmungsrecht besitzen, können sie nicht zu einer Umsetzung eines derartigen Vertrages gezwungen werden. Außerdem hat wohl kaum eine Krankenkasse Interesse daran mit mehreren hundert Kommunen Einzelverträge abschließen zu müssen. Denkbar wäre aber, dass das Land einen Rahmenvertrag mit einer Krankenkasse im Einzugsgebiet abstimmt, den jede Kommune dann einfach übernehmen kann. Um die Landesregierungen dazu zu bewegen und die Krankenkassen zur Umsetzung zu zwingen, muss die politische Forderung sein, den §264 Abs. 1 SGB V verpflichtend zu machen. Aktuell ist dieser Paragraf eine Kann-Regelung. In Bremen will mensch sogar noch einen Schritt weiter gehen, und fordert die Änderung des Abs. 2 , um eine vollständige Angleichung an den Leistungsumfang der gesetzlich Versicherten zu erreichen.
Der Startschuss für die Politik ist auch bereits am 28.11.2014 gegeben worden, als das Thema im Bundestag auf den Tisch kam. Bis zur Sommerpause soll nun eine erste Einschätzung seitens des Bundes erfolgen. Wir sind gespannt!
Bereits jetzt häufen sich bei der AOK Bremen/Brhv. die Anfragen anderer Kassen und Kommunen bezüglich des Bremer Modells. Der Druck auf die Politik eine Lösung für die Flächenländer zu iniziieren steigt langsam.
Fazit:
Die Versorgung Asylsuchender mit Versichertenkarten ist eigentlich schon lange möglich. Allein der Wille fehlt bislang. Punkt.
P.S.: Danke an die Referenten, an Vera Bergmeyer vom MediNetz Bremen und Holger Dieckmann vom Projekt Willkommen für die Ausrichtung dieser tollen Veranstaltung!
26 Antworten