Selbstfindung als Heilsversprechen
In der aktuellen Situation haben esoterische Strömungen regen Zulauf, auch oder gerade wegen dem Versprechen, den Blick auf die Geschicke der Welt und auf sich selbst aufzuklären, und so zu einem neuen, überlegenen Bewusstsein zu gelangen. Für die weltlichen Ereignisse ist schnell eine (oft überraschend schlichte) Verschwörungstheorie zusammengezimmert, die die Bedürfnisse nach Sicherheit und Überlegenheit befriedigt. Aber wie soll es funktionieren, sich selbst zu “finden”?
Uns kennenzulernen und mit uns selbst eine gute Beziehung aufzubauen ist die wohl größte Herausforderung unseres Lebens. Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden, wissen wir dank Sokrates. Umso mehr wir glauben uns selbst zu kennen, desto weiter sind wir meist davon entfernt, denn unser Blick auf uns selbst ist vielfachen, selbstwertdienlichen Verzerrungen unterworfen (hier kannst du dazu einen Überblick lesen). Nur durch den eigenen Blick auf uns selbst werden wir hier also nicht weiterkommen, sogar eher im Gegenteil.
Das Ich scheint ein irisierender Punkt, den eindeutig zu erfassen schier unmöglich erscheint, da er sich stets wandelt und sein Kern sich unserem Blick immer wieder entzieht, sobald wir versuchen ihn zu fokussieren. Genau so, wie wir die Sonne nicht direkt erblicken können, sondern immer nur drum herum. Das Selbst, unser blinder Fleck.
Daher kann man vielleicht eher von einer Konvergenz gegen das Selbst sprechen, als davon, es eines Tages vollumfänglich zu finden. Deshalb können wir uns in jedem Lebensalter auch immer wieder selbst überraschen, denn unsere Persönlichkeit verändert sich ein Leben lang.
Würden wir uns selbst vollumfänglich erkennen, würde gleichzeitig, wie Sokrates andeutet, jegliche Entwicklung zum Stillstand kommen? Ähnlich wie in Michael Endes Buch “Die unendliche Geschichte”, als die kindliche Kaiserin, das Herz des Reiches Phantasien, das Haus des Alten vom wandernden Berge betritt, welcher die Geschichte Phantasiens niederschreibt, und ab diesem Zeitpunkt nicht neues mehr entstehen kann, sondern sich stets alles nur noch wiederholt.
Die häufig fehlinterpretierte Lebensmaxime “Erkenne dich selbst!” vom Orakel in Delphi besagt übrigens ebenfalls nicht, dass man sich selbst “finden” soll, sondern vielmehr die Grenzen der menschlichen Existenz anzuerkennen, sich der eigenen Fehlbarkeit bewusst zu sein, und den menschlichen Drang zur Selbstüberhöhung (die Hybris) zu bekämpfen. Also eigentlich genau das Gegenteil, als sich mit vermeintlichem Verschwörungswissen zu profilieren, sondern viel eher: Bleib mal auf dem Teppich. Ganz ähnlich wie auch Sokrates’ Satz “Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß” dies tut, der ebenfalls häufig anders, nämlich deutlich banaler, ausgelegt wird.
Marx erkannte, dass der Kapitalismus uns von allem entfremdet, und zuletzt auch von uns selbst. Aber wie Adorno, Horkheimer und Fromm festhielten, ist die Entfremdung des Menschen aufgrund der Unterjochung der Natur, der Preis der Zivilisation.
Allerdings ist ein gewisses Maß an Entfremdung, oder auch Abgrenzung, zusammen mit einer gewissen Distanz zu einem selbst, für die menschliche Existenz unabdingbar, betrachtet man beispielsweise das Erlernen der nötigen Abgrenzung des Ichs gegenüber anderen Menschen und der Umwelt, um eine stabile psychische Struktur entwickeln zu können. Und eine gewisse Distanz zu einem selbst ermöglicht es erst, mit den eigenen Emotionen konstruktiv umgehen zu können.
All dies kann sowohl als schlechte, als auch als gute Nachricht an all die Sich-Selbst-Suchenden aufgefasst werden. Die Schlechte ist sicherlich: Ihr werdet euch nie gänzlich „finden“. Das gehört in’s Reich der Pseudolehren. Die Gute aber ist: Das ist auch gut so, weil es euch psychische Stabilität gibt und eure Entwicklung weiter am Leben hält, und sich euch so ein Leben lang neue Wege auftun können. Aber ihr könnt euch selbst auf die Spur kommen, euch euch selbst annähern und euch begleiten. Sich selbst kennen zu lernen ist eine gute und wichtige Sache, weil ihr so viel über eure Bedürfnisse lernt und euer Leben danach ausrichten könnt, statt euch nur darum zu kümmern, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Und es kann euch dabei helfen, verschwörungstheoretische Irrwege hinter euch zu lassen.