Überwachung als Thema der Literarischen Woche: Schluss mit der Scheinbetroffenheit!
Am 26. Januar wird der Bremer Literaturpreis 2015 verliehen. Anlässlich der Verleihung findet ab morgen (Donnerstag, 15.01.) die Literarische Woche statt, die mit einer Reihe von Veranstaltungen das Rahmenprogramm bildet. Die 39. Literarische Woche steht dabei unter der Überschrift „SIE KENNEN DICH! – Überwachung total“.
Zu Gast sind unter anderem Alexander Krützfeld, der unter dem Pseudonym Anonymous 2014 das Buch Deep Web – Die dunkle Seite des Internets veröffentlichte. Spon-Autor Ole Reißmann (@oler) schreibt in seiner Kritik:
Wer noch nie vom “Deep Web” gehört hat, kann sich von diesem Buch ein bisschen erschrecken lassen.
Auch der Titel der Literarischen Woche lässt gruseln. Denn genau auf der Ebene von Angst und Ohnmacht bewegt sich seit Jahren der öffentliche Diskurs zum Thema.
Überwachung findet nicht ohne die entsprechende rahmengebende Gesetzgebung statt. Und sie betrifft zwar tatsächlich jede*n, meist allerdings ohne konkrete Folgen.
Zwei Jahre nach Snowden, neun Jahre nach der Vorratsdatenspeicherung und vierzehn Jahre nach dem Otto-Katalog – wenn Überwachung 2015 thematisiert wird, darf nicht mehr nur die gefühlte Betroffenheit der bürgerlichen deutschen Öffentlichkeit im Vordergrund stehen. Das Maß der tatsächlichen Betroffenheit marginalisierter Bevölkerungsgruppen muss Teil des Diskurses sein!
In Deutschland wie international sind die hauptsächlich und konkret von Überwachung Betroffenen Menschen muslimischen Glaubens, Aktivist*innen in System-, Globalisierungs- oder Regierungskritischen sowie antifaschistischen Bewegungen.
Nach den traumatischen Ereignissen der vergangenen Woche ist wieder von den sogenannten Beobachtungslisten (watch lists) die Rede. Die Attentäter von Paris standen auf britischen und amerikanischen Listen. Im Wesentlichen haben diese Listen im vergangenen Jahrzehnt jedoch großen Spielraum für rassistische Diskriminierung, Willkür und Fehler eröffnet. Erst nach und nach werden durch Leaks und langwierige Gerichtsverfahren die Kriterien etwas transparenter.
Wo die massenhafte Funkzellenüberwachung bei Anti-Nazi-Demonstrationen in Berlin oder Dresden bei dem Gedanken an die entstehenden Begehrlichkeiten und Möglichkeiten zum Eindringen in die gutbürgerliche Privatsphäre uns wohlige Schauder über den Rücken laufen lassen, bedeuten diese für politisch-kritisch Aktive eine konkrete Einschränkung in der Wahrnehmung ihrer Versammlungsfreiheit. Unter Zuhilfenahme des § 129a StGB entstehen daraus unter Umständen auch weit darüber hinausgehende Repressalien.
Das Folgende so kurz wie möglich: In Ägypten, Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Syrien, im Iran, dem Jemen und Libyen wird Soft- und Hardware zur Repression regimekritischer Bewegungen eingesetzt, die aus Deutschland, Europa und den USA exportiert wird. Durch von Hackern veröffentlichte Daten ist bekannt, dass in Bahrain ganz konkret Systemkritiker*innen mit Hilfe der Software Finfisher überwacht und mit ihrer Hilfe ins Gefängnis gesteckt wurden.
Die NSA-Überwachungsdaten tragen auch ganz konkret zu den völkerrechtswidrigen Hinrichtungen mittels unbemannter Flugdrohnen bei, wie im Herbst von Jeremy Scahill und Glenn Greenwald bekannt gemacht wurde.
Es geht mir nicht nur darum, mit dem Finger auf die Kurzsichtigkeit der scheinbaren eigenen Betroffenheit durch Überwachung zu zeigen – Perspektivisch ist das Überwachungsinstrumentarium der Geheimdienste, im Zusammenspiel mit straffreudiger, reaktiver Gesetzgebung und dem allgemeinen politischen Rechtstrend eine überaus beängstigende Vorstellung. Massive Möglichkeiten zur Einflussnahme auf demokratische Entscheidungsprozesse existieren bereits heute und sind durch ihre Subtilität vielleicht nicht ein Mal zu bemerken, was das Ganze um so bedrückender macht.
Diese Ängste haben aber die Aktivität gegen die Maßnahmen in den vergangenen Jahren schon fast zum Erliegen gebracht. Wir können aber jetzt etwas gegen die konkreten und gegenwärtigen Wirkungen unternehmen – und damit zugleich das Bedrohungspotential entschärfen, das die Überwachungsmaschinerie für die Zukunft bereithält.
Dazu muss aber die Nabelschau der Scheinbetroffenen ein Ende haben und Betroffene müssen im Diskurs die ihnen zustehende Stimme und unsere aktive Unterstützung erhalten.
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