FREE VALENTIN
DOWNLOAD PDF FREE VALENTIN
Der Bremer Arbeitskreis kritischer Jurist_innen fordert die unverzügliche Freilassung des in Untersuchungshaft verbrachten Valentin
Eine kritisch-juristische Bestandsaufnahme zum Skandalfeld Untersuchungshaft
“Die Untersuchungshaft lässt sich mit der Unschuldsvermutung des Artikels 6 Abs. II EMRK nicht ohne weiteres vereinbaren. [Untersuchungshaft] darf nur in streng begrenzten Ausnahmefällen angeordnet werden”. “[Sie] darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.”
In der Bundesrepublik hat die Anordnung von Untersuchungshaft, als rechtsstaatlich anmutende Generalprävention, inzwischen den Status einer trotzigen Tradition erreicht. Das Erdem-Urteil des Europäischen Gerichts für Menschenrechte (EGMR), das anlässlich der Untersuchungsinhaftierung des PKK Aktivisten S. Erdem gesprochen wurde, war der Tatsache geschuldet, dass der Kläger Erdem über fünf Jahre mit einer immer gleichen sowie haltlosen Begründung in U-Haft gehalten wurde. Dieser Fall vor dem EGMR, steht bis heute nicht nur stellvertretend für die innerstaatlich interessengeleitete Verfolgung der PKK durch die Bundesrepublik. Sondern gibt für das Skandalfeld Untersuchungshaft Aufschluss darüber, wie die deutsche Strafjustiz das Mittel der Untersuchungshaft, als Machtinstrument, über Gebühr strapaziert.
So wurde in dem Fall ‘Erdem gegen die Bundesrepublik’, rückwirkend die Untersuchungsinhaftierung gegen den Kläger, als rechtswidriger Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, kassiert. Entgegen der zutreffenden Begründungen im Urteil des EGMR, wird den daraus abzuleitenden justiziellen Konsequenzen ungeachtet, zum Wohle des anhaltenden U-Haft Fetisch der deutschen Strafjustiz, das Rechtsprechungsurteil vom EGMR in den Erwägungen der Verantwortlichen gegenwärtig außer Acht gelassen. Die Anwendung der belastenden Zwangsmaßnahme U-Haft, wird trotz eines justiziellen europäischen Bewusstseins über dessen schweren Folgen für die Betroffenen, weiterhin, wie auch im aktuellem Bremer Fall des Inhaftierten “Valentin”, wider der Rechtsprechungsurteile des EGMR und wider den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), auch in Bremen unverhältnismäßig und auffallend oft, besonders gegen politische Aktivist_innen, durchgesetzt.
Diese Tatsachen sind nicht auf das Feld der schlichten Einzelfälle zu verweisen. In der Bundesrepublik wird das Mittel der U-Haft gegen engagierte Menschen aus dem linkspolitischen Spektrum bundesweit kritisch beobachtet. Die Bundesrepublik scheint mit dieser Vorgehensweise, gemessen an anderen Staaten in der Europäischen Union, das einschüchternde und folgenschwere Mittel der U-Haft, besonders gegen unliebsame politische Aktivist_innen zu nutzen und, neben wenigen anderen EU Staaten, damit schon fast ein Alleinstellungsmerkmal in der Europäischen Union inne zu haben. Diese Praxis widerspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung, das Mittel der Untersuchungshaft nur in streng begrenzten Ausnahmefällen anzuordnen.
Insgesamt ist Untersuchungshaft eine justizielle und politische Praxis, die den aufgeladenen Begriff der sogenannten “Klassenjustiz”, bis heute zu legitimieren scheint. Der damit verknüpfte Begriff des “politischen Gefangenen”, wird diesen innerdeutschen Zuständen zum Trotz, unsachlich als “linksextremer” Populismus abgetan. Ein offenkundig politisch-ideologischer Reflex, von einer sich selbst vermeintlich als “ideologiefrei” verstehenden Strafjustiz. Daneben ist U-Haft, neben der Abschiebehaft, ein belastendes Mittel, das gemessen an der Staatenzugehörigkeit der jeweils inhaftierten, überwiegend auch auf junge Migrant_innen oder auf Personen mit Flüchtlingseigenschaft angewendet wird. Dieses ist oft das Resultat rassistisch motivierter Polizeikontrollen. Kriminalwissenschaftliche Analysen belegen, das delinquentes Verhalten migrantischer Personen, bzw. Personen mit Flüchtlingseigenschaft, keinesfalls höher im Vergleich zu nicht-migrantischen Personen eingestuft werden kann. Dennoch ist die Inhaftierungsquote bei dieser Gruppe, um ein Vielfaches höher.
Die ‘Europäische Menschenrechtskonvention’ und die ‘Deutsche Praxis’
In juristischen Verlautbarungen der Bundesrepublik, wird an der Stelle an der Urteile zu Menschenrechtsfragen bedingungslos anzuerkennen sind, von der Bundesrepublik stattdessen auf kulturelle, historische sowie traditionelle Eigenarten deutschen Rechts verwiesen. Die EMRK ist gemäß Art. 59 II GG auch für die Strafjustiz der Bundesrepublik, auf der Ebene eines Bundesgesetzes, zwingend anzuerkennen. Statt höchstrichterlicher Rechtsprechungen Folge zu Leisten, wie es die deutsche Verfassung der deutschen Strafjustiz abverlangt, wird bei unbequemen Urteilen sowie bundesrechtsgleichen Normen, gerade in Verwaltungs- und Strafrechtsverfahren, nicht selten die Bindungswirkung ausgeblendet. Die Bundesrepublik wies bei Klagen gegen die kritisierten Mängel, nicht selten diese mit der Begründung zurück, dass das deutsches Recht nicht gänzlich durch Europäische Urteile und Normen überschrieben werden dürfe. Der Bundesrepublik müsse bei ihrer innerstaatlichen Transformation, aktueller höchstrichterlicher Rechtsauffassung, in das deutsche Recht, genügend Handlungsspielraum gelassen werden. – Welche Traditionen, Geschichte und Eigenarten könnten hier verkörpert sein, die Normen für ein besseres Menschenrecht für nicht bedingungslos übertragbar halten.
Im Zweifel gegen die Unschuldsvermutung
Die strafrechtliche Politik des Könnens, aber nicht Wollens, ermöglicht das der rechtsstaatliche Fremdkörper “U-Haft”, ähnlich wie das Mittel “Abschiebehaft” und “Sicherungsverwahrung, dennoch im vermeintlich “modernen Rechtsstaat” sein marodes zu Hause findet. Trotz fachjuristisch aufbereiteter Kritik, werden auffällig oft zu Unrecht beschuldigte, bzw. vermeintlich “dringend” verdächtige Personen, in U-Haft genommen. Bei den Tatbeständen in Beziehung zur ‘Wiederholungs- oder Fluchtgefahr’, lässt sich ex post nachzeichnen, dass die Einschätzung der zuständigen Haftrichter_innen oft auf haltlosen Spekulationen der Ermittlungsbehörden beruht.
Erst kürzlich hob das BVerfG die sieben Monate anhaltende U-Haft gegen den verdächtigen Bremer Studierenden, Umar R., nach Beschwerde auf. Dieser war von Anfang an zu Unrecht ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten. Nun wurde das gesamte Ermittlungsverfahren gegen den jungen Menschen eingestellt. An welcher Stelle die Unschuldvermutung den Betroffenen davor bewahrt haben soll, sieben Monate seines jungen Lebens unschuldig in einer Zelle zu verbringen, erschließt sich wohl nur der Bremer Strafjustiz, der Polizeibehörde und dem Senat. Nicht selten wird weit über 6 Monate oder schlicht, von Haftprüfungstermin zu Haftprüfungstermin, dringend “verdächtige” Personen festgehalten. Gegen die oft abenteuerliche Behauptungen aufgestellt sind, die in der ex post Betrachtung kaum Substanz haben konnten.
Inkompetente Ermittlungen setzen so die Begründung zur Fortsetzung der Untersuchungshaft. Regelmäßig wird wider dem § 121 Abs. I StPO, keine doppelstufige Prüfung vorgenommen. Vielmehr wird nach dem justizinternen Schema vorgegangen, das Oberlandesgericht solle doch darüber befinden. Das Ermessen des Haftrichters ist in der justiziellen Realität oftmals nur in eine Richtung ausgeschöpft. Das der Prozess, selbst mit eiligen Rechtsmitteln, langwierig ist, Fachanwält_innen seitens der Rechtslage wenig Handlungsspielraum zugunsten ihrer Mandant_innen haben, dass es allein dem Haftgericht obliegt mildere Mittel einzusetzen, dass die verdächtige Person durch die U_Haft grundsätzich unverhältnismäßig belastet ist, liegt regelmäßig weit außerhalb der Sichtweite der zuständigen Strafjustiz.
Dass die regelmäßige Anwendung von Untersuchungshaft nicht nur den Sinn und Zweck der §§ 112 ff. StPO untergräbt, sondern auch die dem Bundesrecht gleichstehenden Rechte aus der EMRK verletzt, verfolgt in der Strafjustiz und bei den Ermittlungsbehörden grundsätzlich kein unteres Gericht, das ein zermürbendes Telefonat mit der Staatsanwaltschaft, dem Innensenat, bzw. generell den Landesinnenministerien, scheut. Die auffällig vielen dokumentierten Fälle, bei denen sich später nur geringfügige oder gar keine Haftstrafe aus dem Strafverfahren ergab, die Ermittlungen plötzlich eingestellt wurden oder das Oberlandesgericht, bzw. das BVerfG, die U-Haft aufgrund eines erfolgreichen Beschwerdeverfahrens aufhob, werden von den tragenden Säulen des Rechtsstaats verschwiegen. Dem Rechtsstaate ist vielmehr daran gelegen, dass das Vertrauen seines Staatsvolks, in die Rechtschaffenheit seiner Staatsgewalt, unter keinen Umständen angezweifelt wird. Wie könnte bei der Komplexität juristischer Konstruktionen, bei fachfremden Bürger_innen auch vernehmbare Zweifel aufkommen. Bürger_innen müssen sich grundsätzlich auf Verlautbarungen von Behörden verlassen.
Dessen Behauptungen halten oft verkürzt oder unzureichend von juristischen Laien Interpretiert, in den journalistischen Publikationen Einzug. Und entfalten so bei den Bürger_innen unkritisch ein transformiertes Gefühl der Ordnung und der Sicherheit. Glaubwürdigkeit und Transparenz herzustellen würde bedeuten, juristische Verfehlungen in der Praxis öffentlich einzugestehen. Exakt am Gesetz zu arbeiten sowie Urteile bedingungslos anzuerkennen und ohne eigene politische Intentionen, die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Die gegenwärtige Praxis, gerade für reaktionär-ideologische Strömungen, vermag parteipolitisch nützliches Kapital zu generieren. – “Einsperren und Schlüssel wegwerfen”, war eine von der Bevölkerung breit beklatschte Äußerung des zuletzt amtierenden Kanzlers dieser Bundesrepublik. Ein groteskes Menschenbild, das mit dem der EMRK und dem der modernen Aufklärung nichts gemein hat.
Repression, Prävention und faktische Strafe
Das mit dem juristischen Konstrukt der U-Haft faktisch auch eine Bestrafungsfunktion bereits inzident verkörpert ist, kann nach der Vielzahl von kritischen Schriften juristischer Institute, Bürgerrechtsorganisationen, Anwält_innenvereinen und persönlichen Erfahrungsberichten von Betroffenen, durch jedwede Regierung und Justiz nicht weiter glaubhaft bestritten werden. Dieser Tatsache entgegen, wird konsequent besonders auf parteipolitischer Ebene, wie auch im Zentrum der deutschen Strafjustiz, jede Strafwirkung und Straffunktion von Untersuchungshaft öffentlich bestritten, bzw. ignoriert. Diese maßgeblich reaktionäre Haltung in der Strafjustiz, die sich auch auf den Innenministerkonferenzen, in Stellungnahmen der Bundesregierung sowie fatal für die nächste Generation von Verteidiger_innen, auch in der juristischen Lehre fortsetzt, enthebt jedwede Anwendung dieser faktisch strafenden Zwangsmaßnahme, umso mehr einer “rechtsstaatlich” objektiven Auseinandersetzung mit der Realität von Untersuchungsinhaftierten.
Die mögliche Abgeltung von erlittender U-Haft, zur Anrechnung an die später verhängte Strafzumessung, gibt Aufschluss darüber, dass es sich wohl bei der Anordnung von U-Haft doch um bedingte Strafe handeln muss. Sonst gäbe es hier im Bereich der Strafzumessung wohl auch nichts “anzurechnen”. Dennoch wird in der etablierten juristischen Literatur sowie in den herrschenden Rechtsauffassungen, peinlichst darauf geachtet, dass kein_e Jurist_in es wagt U-Haft als faktische Strafe zu verstehen. Die Panik bei der Strafjustiz und im Sitzungssaal der Parlamente, wäre bei einem eintretenden Paradigmenwechsel absehbar. Anstatt mit der traditionellen Methode des subtilen Marterns arbeiten zu können, um an Aussagen und günstige Verfahrensabläufe zu gelangen, müssten die Länder der Bundesrepublik, statt bei dieser Aufgabe allein auf die deutsche Strafjustiz zu vertrauen, auf kosten- und zeitintensive kriminalistische Methoden setzen. Dies ließe sich den deutschen Wähler_innen nur schlecht erklären.
Das nach dem Ultima-Ratio Gebot nur als letzte Maßnahme einzusetzende Mittel, sofern mit anderen gleich geeigneten Mitteln kein Erfolg herbeigeführt werden kann, dient entgegen dem was der Begriff U-Haft vermuten lassen will, selten einer tatsächlichen “Untersuchung”. Sondern vielmehr der Staatsanwaltschaft, als ein legalistisch anmutendes Machtinstrument. Faktisch ein solides Mittel zur quasi Geständniserpressung sowie der faktischen Abpressung einverständlicher Verfahrenslösungen. Das gerade im Zusammenhang ‘mutmaßlich’ begangener Straftaten mit hohem medialen Interesse, auffällig oft U-Haft angeordnet wird, lässt erkennen, wie verführerisch es für Strafverfolgungsbehörden sein muss, nach einem Instrument greifen zu dürfen, das beides verkörpert: Sowohl Beruhigungsmittel für die Öffentlichkeit, als auch perfide Möglichkeit, um an gewünschte Aussagen oder günstige Verfahrenslösungen heranzukommen. Eine Möglichkeit, die zudem das strikte Folterverbot, gemäß § 136a StPO zu umgehen weiß. Bezieht sich diese Norm ausschließlich auf den Bereich der Vernehmung, nicht auf den Bereich der verfahrenssichernden Ermittlungsmaßnahmen.
Artikel 3 der EMRK verbannt den Anwendungsbereich des Folterverbots hingegen nicht allein in den Bereich der Vernehmung. Sondern spricht von “unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung”; für alle Anwendungsbereiche der Strafjustiz. Das U-Haft von einer nach dem Gesetz, als “vermutlich unschuldig”, zu behandelnden Person, mindestens von dieser Person als erniedrigende oder bestrafende Handlung aufgefasst werden wird, sollte einleuchten. Das eine gesetzliche Grundlage für den Vollzug der Untersuchungshaft bisher mehr als unzureichend in § 119 StPO und § 177 StVollzG vorhanden ist, legitimiert die Forderung des Arbeitskreises kritischer Jurist_innen umso mehr, die unverzügliche Freilassung Valentin’s zu veranlassen. Durch derartige Mängel in der klaren Trennung zwischen dem Ziel der Untersuchung eines dringend Tatverdächtigen und dem Sinn einer Haftunterbringung durch das Strafurteil, werden Untersuchungsinhaftierte in der Praxis des Strafvollzugs, wie bereits verurteilte Personen, zwangsweise in den Gefängnisalltag eingegliedert. Zudem werden Betroffene von U-Haft schwerer belastet, da diese weitaus mehr isoliert untergebracht und überwacht sind.
Das Verbot der Doppelbestrafung im Diskurs der Generalprävention
Die sinn- und zweckbezogene Integration von Artikel 4 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK, die Einbeziehung Artikel 50 der Europäischen Grundrechtecharta, die Integration der deutschen Verfassung sowie die ständige Rechtsprechung des EuGH in das Feld der Untersuchungshaft, geben Aufschluss zu der Frage, ob es sich bei Untersuchungshaft um Strafe oder mindestens um eine, dem gleichstehende, erniedrigende Behandlung handelt. So bestätigen alle höchsten Gerichte das so genannte “Verbot der Doppelbestrafung” in Beziehung zur Strafe durch Urteil. Aufgrund der weitreichenden fachjuristischen Analysen, müsste jede dieser “generalpräventiven” Unterbringungen in Untersuchungshaft als eine Form faktischer Strafe folgerichtig anerkannt werden. So würde in der konsequenten Folge das Verbot der Doppelbestrafung die gesamte Praxis der U-Haft strikt der Rechtswidrigkeit zuführen. Den parlamentarischen und juristischen Architekt_innen diente es bisher, folgende Rechtslogik in den Köpfen der Bürger_innen zu konservieren: “Wer nicht durch Urteil der Strafe zugeführt wird, sondern vor Urteil in Haft genommen, ist nicht bestraft.”
Widerstände gegen diese betonierte Auffassung dürfen aus Sicht juristischer Eliten gerne in exponierten juristischen Fachmagazinen abgehandelt werden. Jedoch in der Praxis darf die U-Haft, als Mittel zur Generalprävention, nicht angezweifelt werden. Sogenannte Strafzwecktheorien werden in der juristischen Ausbildung bisher eher als unbedeutende Nebensache behandelt. Das gesamte Spektrum zum Feld “Staatiches Strafen” ist seit jeher kein Gebiet juristischer Ausbildung. Für Jurist_innen endet das Bewusstsein bei den Fragen zur Feststellung der Schuld und der jeweiligen Strafzumessung. So sollte die leichtfertige Anwendung der Untersuchungshaft durch Haftrichter_innen nicht wundern. Gerade hier wäre eine wissenschaftlich orientierte Sensibilisierung für Gerichte und Staatsanwaltschaften unbedingt erforderlich, um bei dem angeblichen Versuch Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden, nicht permanent Menschenrechtsverletzungen zu begehen.
Wäre Untersuchungshaft als eine Form vorweggenommener Strafe folgerichtig im juristischen und politischen Diskurs anerkannt, schüfe das gesamte juristische Konstrukt ‘Untersuchungshaft’, mit seiner strafwirkenden Existenz, zugleich auch seine Unzulässigkeit im rechtsstaatlichen System. Jedes dieser Unterbringungen wäre als rechtswidriger Verstoß zu unterlassen. Um Menschen die im Schutzbereich der Unschuldsvermutung stehen, keiner Strafe oder erniedrigender Behandlung auszusetzen. In der Folge entfiele Untersuchungshaft gänzlich als generalpräventives Mittel.
Unter diesen angeschnittenen Gesichtspunkten lässt sich auch für juristische Laien nachzeichnen, dass das Einbinden des Verbots der Doppelbestrafung in die Kernfrage: Ist Untersuchungshaft faktisch eine Form der vorweggenommen Strafe, den schönen Albtraum der Bundesrepublik von U-Haft, sowie von Abschiebeknästen und Sicherungsverwahrung, mit einem Schlag zunichte machte.
Der Siegeszug der Strafjustiz durch Hegemonialisierung
Welch fragwürdige Praxis im Zusammenhang mit Untersuchungshaft im politischen Alltag gegen politische Aktivist_innen systematisch durchgeführt wird, kann nicht zuletzt bei den von bürgerlichen Medien. Parteien und Strafverfolgungsbehörden gern als “1. Mai Krawalle” abgewerteten sozialen Kämpfen, jedes Jahr, ebenso traditionell im Zuge von Demonstrationen, als Beleg herangezogen werden.
Regelmäßig werden festgenommene Verdächtige, entgegen verfassungsrechtlich garantierter Unschuldsvermutung, nach dem politischen Schema einer fragwürdigen Extremismustheorie behandelt. Von Strafverfolgungsbehörden wird permanent unterstellt, die Festgenommenen, bzw. Untersuchungsinhaftierten, seien durch politisch “linksextrem” motivierter Bestrebungen in das Raster gelangt. Wie sie diese Feststellung wissenschaftlich objektiv belegbar machen will, dazu schweigt Justiz, Polizei, Staatsschutz und Verfassungsschutz sich aus. Oft wird die Interpretation dem Staatsschutz oder dem Verfassungsschutz allein überlassen. Oder die Polizeibehörden argumentieren mit “Erfahrungswerten”. Erfahrungswerte sind keine objektiv belastbaren Werte, sondern unterliegen der Gefahr allein auf Vorurteilen oder Fehleinschätzungen zu basieren. Welche in mikropolitischen Prozessen zur Gewohnheit werden und den Trugschluss erzeugen, ein “Erfahrungswert” zu sein. Wenn ein_e Polizeisprecher_in, so beispielsweise am 21.12.2012, in Hamburg, von nahezu ‘5000 gewaltbereiten Linksextremen’ auf einer angemeldeten Demonstration spricht, müssen kritische Jurist_innen die bundesweit Demobeobachtungen durchführen, doch sehr staunen, woher Behörden ihre schieren Behauptungen nehmen oder wie sie gedenkt, diese vor Kritik zu verteidigen.
Doch das muss sie nicht und musste sie nie. Es reicht etablierten Medien und Bürger_innen aufregende Zahlen durch Behörden angesagt zu bekommen, ohne sich oftmals eine zweite, differenzierende, Meinung holen zu können. Nachdem die Strafverfolgungsbehörden vermeintlich “linksextreme” Personen oder Personengruppen festgenommen haben, werden diese Verdächtigen regelmäßig, je nach Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, von bürgerlichen Amtsträgern aus Justiz- und Innenbehörden, gezielt einer eher ‘extrem’ einseitigen Berichtserstattung sowie latent traumatisierenden Untersuchungshaft zugeführt. Betroffene werden in der Öffentlichkeit, durch tendenziöse Berichtserstattung von Polizei- und Justizsprecher_innen, ungerechtfertigt vorverurteilt und stigmatisiert. So geschieht es auch aktuell in Bremen, im Zusammenhang mit dem Fall Valentin. Polizeiliche Pressekonferenzen geben den Ereignissen mehr Gewicht, als es strafrechtlich tatsächlich hat. So wird mit diesem Mittel der augenscheinlich transparenten Informationspolitik, der schwere Eingriff in das Grundrecht der Betroffenen öffentlichkeitswirksam gerechtfertigt.
Der psychologische, soziale, wirtschaftliche, bzw. berufliche Schaden für die von U-Haft Betroffenen, wird seitens der zuständigen Staatsorgane und ihrer treudienlichen Medien, für eine lediglich “mögliche” gerichtliche Verurteilung, billigend in Kauf genommen. Am Beispiel der erhöhten Inhaftierungsquoten im Feld Untersuchungshaft, nach jedem 1. Mai, zeigt, dass nur in den wenigsten Fällen Verurteilungen zu “Freiheitsstrafen ohne Bewährung” folgen. Diese unverhältnismäßge Praxis also aufzugeben, aufgrund der Häufung von schlichten Behauptungen und substanzlosen Mutmaßungen, seitens der Ermittlungsbehörden, scheint, für das seit Jahrzehnten eingespielte Funktionieren der Institutionen der Bundesrepublik bislang abwegig. Den Betroffenen unbeirrt die Ausgestaltung ihrer verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zu entziehen, folgt augenscheinlich dem Prinzip: “Die Freiheit der Person ist unverletzlich! – Das Nähere regelt hier der Haftrichter!”.
Durch das Mittel der U-Haft, bzw. durch jede Form von Überwachung und Bestrafung, tritt der Effekt zur Hegemonialisierung des Staates, bzw. zur Zerstörung von politischen Widerständen, für die herrschende Klasse begünstigend ein. Permanente Repression wird, wie am Beispiel der 1. Mai Demonstrationen nachgezeichnet werden kann, zum Mittel staatlicher Prävention transformiert. Zunächst sehen sich politisch aktive Bürger_innen verunmöglichter Grundrechtsausübung ausgesetzt. Sodann landen die von den Repressionsbehörden vorverurteilten Menschen, meist ohne substantiierte Beweislage, ersteinmal unschuldig in die Untersuchungshaft. Im Anschluss werden einseitige Pressekonferenzen oder Mitteilungen durch die Behörden in die Medien gesendet. In der Folge werden unerwünschte Demonstrationen und Demonstrant_innen pauschal, im Sinne deutscher Bundes- oder Landesregierungen, öffentlich kriminalisiert. Eingeschüchterte Bürger_innen sind so wieder auf Linie gebracht. Eine regelmäßige Nachbetrachtung, ob irgendetwas von dem was durch die Behörden behauptet wurde dem Beweis zugänglich war, gibt es traditionell nicht.
Der Kerngehalt der Grundrechtsausübung ist nicht zuletzt auf Demonstrationen, über die Jahrzehnte des Bestehens der Bundesrepublik, durch die zunehmend militaristisch operierende Praxis der spezialisierten Polizeibehörden, schon längst dramatisch ausgehöhlt. An dessen Stelle ist in Teilen das erprobte Prinzip totalitärer Justiz getreten.
Das Mittel “Bestrafe einen, erziehe hundert!”, erhält folglich in der Bundesrepublik eine leise Praxis mit System. Diese Praxis des Einknastens in U-Haft, wie beispielsweise regelmäßig bei antifaschistischen, antikapitalistischen Demonstrationen, dient somit strukturell der Abschreckung und Zurückdrängung linkspolitischer Aktivist_innen. Dient der Zerstörung der sozialen, psychologischen und politischen Integrität der von U-Haft Betroffenen. Dient der Zerstörung jeder Bereitschaft eines kritisch denkenden Menschen, überhaupt aktiv an Demonstrationen, also am demokratischen Entwicklungsprozess, teilzunehmen. Besonders, wenn Demonstrationen oder Großveranstaltungen durch Repressionsbehörden schon im Vorfeld kriminalisiert werden. Dies geschieht ebenso regelmäßig mit der Ankündigung von Repressionsbehörden, sie gingen von “erheblichen Straftaten” aus.
Wenn diese Praxis das Demokratieverständnis eines modernen Rechtsstaates widerspiegeln soll, sind entsprechende Reaktionen darauf nicht verwunderlich, sondern dessen logische Folge. Die Staatsgewalt hat trotz seiner Monopolstellung, auch bei der Wahl ihrer Mittel. die juristischen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit von Einzelfall zu Einzelfall zu wahren. Wenn in der Folge die Summe der behördlich eingesetzten Maßnahmen zum abschreckenden Präventionsmittel transformieren, so dass politisch organisierte Bürger_innen Ängste aufbauen, die sie daran hindert an einer Großveranstaltung, bzw. Demonstration, teilzunehmen oder sie zu organisieren, leidet das Demokratieverständnis in der Praxis nicht nur bei den Bürger_innen nachhaltig. Vor allem ist bei dieser Beschädigung des gesellschaftlichen Demokratieverständnisses, durch Verursacher_innen auf parteipolitischer Ebene, ihr gesamtes Interesse in Zweifel zu ziehen. Die Praxis sich darüberhinaus parteipolitisch, durch provozierte Eskalationen seitens der Behörden, nutzbar zu machen, wie regelmäßig bei bundesweiten Großdemonstrationen, ist ein zutiefst antidemokatischer Akt.
Die schleichenden Entwertung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit, hat mit dem Kernkonstrukt eines modernen “demokratischen” Rechtsstaates und seiner verfassungsgemäß garantierten Prinzipien nichts gemein. Ein technokratisch operierender Rechtsstaat, der es trotz Aufwendung erheblicher Mittel nicht organisieren kann oder will, dass durch seine Organe keine Menschenrechtsverletzungen begangen werden, muss sich auf politischer Ebene fragen lassen, durch welches regelmäßige staatliche Tun, Dulden oder Unterlassen, dieser “Rechtsstaat”, entgegen seines verlautbarten Anspruchs, entgegen jenen augenscheinlich hohen Prinzipien von Demokratie und Menschenrecht, mit Vorsatz verstößt. Fragliche Tatsachen, die seine gesamte Legitimation in Zweifel ziehen lässt.
‘Ideologiefreie Strafjustiz’ versus ‘Gesinnungsstrafrecht’
Die programmatische Aushebelung der Unschuldsvermutung, der Menschenwürde sowie das Recht auf Selbstbestimmung, werden unbestreitbar durch die grundsätzlich unverhältnismäßige Anwendung der U-Haft, besonders gegen politische Aktivist_innen, irreversibel verletzt. Das Ultima-Ratio Gebot wird in der Praxis, aus eigennützigen Erwägungen der Justiz heraus, strukturell missachtet. Der Rechtsstaat wird in dessen Folge, in der Tat, zum Strafsystem gegen jede kritische “Gesinnung” modifiziert. Eine Gesinnung die sich wagt, ihrem Gewissen und Überzeugungen nach, sich aus eigenem Antrieb gegen die herrschenden Verhältnisse zu betätigen, wird auf der sekundären Ebene des Rechts durch die herrschende Klasse angetastet. Auch wenn sich die Strafjustiz davor verwahren wird und behaupten, dass sie kein Gesinnungsstrafrecht kennt, so wirkt sich die traditionelle Einknastung von politischen Aktivist_innen zu einer gesamtgesellschaftlich abschreckenden Wirkung auf jegliche politische Betätigung nachhaltig aus. Wo überwiegend Aktivist_innen aus dem “linken” Spektrum betroffen sind, wird U-Haft effektiv zur Gesinnungshaft.
Wenn inhaftierten Personen in ihrer Willensentschließung und Willensbetätigung beeinträchtigt oder gehindert werden, wenn sie nur durch Geständnis oder durch Zustimmung zu einem bestimmten Verfahrensverlauf sich der Maßnahme der U-Haft vorzeitig entziehen können, darf bei dieser belastenden Maßnahme auch von einer gesetzlich legitimierten Justizmethode der institutionalisierten Einschüchterung und Aussageerpressung gesprochen werden. Hierbei verleitet das auf unbestimmte Zeit Eingesperrt sein und der psychologische Druck manche Betroffene zu Aussagen, die nicht den Tatsachen entsprechen müssen. Ist das Gefühl der Bestrafung subjektiv ausreichend groß, folgen möglicherweise Aussagen die sich gegen das eigene Gewissen und gegen die eigenen politischen Überzeugungen richten. Hierauf spekuliert seit jeher der Gesetzgeber und hierauf spekuliert auch die deutsche Strafjustiz.
Durch die etablierte Rechtslehre unbestritten, bricht unmittelbar wirkender Zwang den eigenen Willensentschluss. Was sollte anderes bei einer U-Haft gegeben sein, außer der Institutionalisierung von unmittelbaren Zwang, zur Brechung der eigenen (politischen) Entschlusskraft der Inhaftierten. In der Doppelwirkung dieser Maßnahme, gibt diese Ausformung des Überwachens und Strafens eine verheerende Signalwirkung besonders an junge, politisch engagierte, Menschen. Soziale Kämpfe für eine befreite Gesellschaft, erscheinen ihnen ununterbrochen, durch Repressionsorgane und dessen propagandistisches Zutun in den Medien, kriminalisiert. Ihre Willensentschluss wird durch die einschüchternde Wirkung von behördlichen Zwangsmaßnahmen gehindert. Dies verletzt ihren individuellen politischen Ausdruck, die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihre persönliche Freiheit; dessen Wesen, dem Anspruch nach, die Demokratie auf dem verfassungsrechtlichen Papier verkörpert.
Das staatliche Strafen und dessen schwere Folgen
Wie betont wurde, belegen diverse Untersuchungen, das die Maßnahme des präventiven Inhaftierens schlichtweg auf Betroffene als eine Form der psychologischen Folter wirkt. Kaum ein Mensch wird je nach Alterstufe, charakterlicher Eigenart und körperlicher sowie psychologischer Konstitution, eine solche Prozedur ohne Beschädigung des Gesundheitszustandes überwinden. Anhaltend hohe Suizidquoten in der Untersuchungshaft, mögen an dieser Stelle belegen, dass es besonders bei der Anordnung gegen Jugendliche, sich zu einem modernen Folterinstrument auswirken kann. Aus dem sich viele der Betroffenen nur noch mit dem Selbsttötung glauben befreien zu können. Gerade in den Fällen, in denen Untersuchungsinhaftierte im Unklaren gelassen sind, ob ihr persönliches Martyrium Morgen, nächsten Monat oder erst in ein Paar Jahren endet.
So ist besonders an diesem Beispiel eine schwere Beschädigung des Gesundheitszustandes, als schwere Folge, zu unterstellen. Bei routinemäßiger Betrachtung durch psychologische Gutachter_innen, während der Untersuchungshaft, sind kurze Gespräche kein probates Mittel zur Bemessung, ob die Person weiterhin hafttauglich ist. Sonst ließen sich die hohen Selbsttötungsraten in der Untersuchungshaft und im Bereich der Abschiebehaft sowie auch im gewöhnlichen Regelvollzug, nicht erklären. Das auch bei bestreiten dieser Tatsachen, dennoch diese Wirkung auf Betroffene nicht schlichtweg ausgeschlossen werden kann, gibt Haftrichter_innen zur höchsten Aufgabe, nur in streng begrenzten Ausnahmefällen, wie in dem Fall der NSU Terroristin, B. Zschäpe, Untersuchungshaft zur Anwendung kommen zu lassen.
Misstrauen in den Rechtsstaat ist legitim und notwendig
Mit dem Blick kritischer Jurist_innen auf die Vielzahl von Gerichtsbeschlüssen, bzgl. der Anordnung zur Untersuchungshaft, kann belegt werden, dass diese Beschlüsse sich gebetsmühlenartig auf dessen Vorentscheid beziehen. Diese Praxis steht ebenso im eklatanten Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR und der des Bundesverfassungsgerichts. Dieses politische Kalkül in der Rechtspraxis des Strafrechts, kann nicht damit zurückgewiesen werden, dass Inhaftierte, wie aktuell der in U-Haft verbrachte Valentin, hier ganz im Vertrauen auf das Funktionieren des “Rechtsstaates”, das Hauptverfahren gegen sie abwarten sollen.
Mühevoll ins kleinste Detail aufbereitete Sachargumente der bevollmächtigten Strafverteidiger_innen, werden in der Regel flächendeckend ignoriert und die notwendige dezidierte Kontrolle für die Haftentscheidung durch Landesobergerichte, werden nur äußerst selten zur Anwendung gebracht. Die Affinität, eine bereits in die Wege geleitete Haftentscheidung fortzusetzen, wird ebenso traditionell gegen das Ultima-Ratio Gebot durchgezogen. Das hier oft eigene Interessen der Staatsanwaltschaft und mitunter des zuständigen Senats im Vordergrund stehen mögen, ist schwer außerhalb des Justizapparats nachzuweisen. Die Berichtserstattung über derartige Fälle, werden in der Bewertung gerne den Gerichtssprecher_innen, dem Senat, dem Innenministerium, den Polizeibehörden und den regierenden Fraktionen überlassen. Das öffentliche Stimmungsbild, gegenüber UntersuchungsInhaftierten, ist folglich abzusehen. Hierin liegt wiederum schon eine Einflussnahme auf das zuständige Gericht vor.
Die in Bremen befasste Staatsanwaltschaft, der Senat und das zuständige Gericht in der Sache, mögen ihr Studium und ihr Gewissen schon lange hinter sich gelassen haben. Vielleicht belebt ihre Auseinandersetzung mit den diversen Urteilen, Kommentaren und Schriften zumindest ihren Wissensstand; und eine sofortige Freilassung Valentin’s wird die logische Konsequenz aus dessen folgerichtiger Anwendung.
Die regelmäßige Praxis der unverhältnismäßigen Einknastung politischer Gefangener in U-Haft, der faktischen Aussageerpressung oder Nötigung zu Verfahrensverläufen im Interesse der Strafjustiz, der damit verbundenen faktischen Bestrafung und der psychologischen Folter von zwingend als ‘unschuldig’ zu behandelnden Tatverdächtigen, die billigend in Kauf genommene soziale, wirtschaftliche und berufliche Schädigung von Untersuchungsinhaftierten, ist auch im Bundesland Bremen nicht hinzunehmen.
Der Arbeitskreis kritischer Jurist_innen fordert aus diesen Gründen die unverzügliche Freilassung des in Bremer U-Haft befindlichen Valentin sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen.
Arbeitskreis kritischer Jurist_innen Bremen Donnerstag, 23.07.2015
Juristische Fakultät der Universität
Universitätsallee, GW I
28359 Bremen
Presseerklärung des Anwaltes zu den aktuellen Ereignissen –
„Presseerklärung als Verteidiger des „Valentin“
Das Ende der Unschuldsvermutung!
Das Ende der Gewaltenteilung!
„Valentin“ ist Chefsache, dass hat Herr Mäurer deutlich gemacht. Er entscheidet, alle haben sich nach seiner Auffassung zu richten. Und: Alle scheinen sich einig zu sein. Die Anmoderation des Beitrags bei buten un binnen vom 05.08.2015 offenbart dies: Valentin ist links, Mitglied der Ultras und hat sich mit rechten Hooligans geprügelt. Weiterer Aufklärungsbedarf besteht scheinbar nicht mehr. Ich bin sicher, das Gericht sieht das anders.
Die Kritiker werden in die Räumlichkeiten des Innensenators eingeladen und auf Linie gebracht: Wir sind auf dem rechten Auge nicht blind – allenfalls einzelne Beamte!
Was fällt dem Innensenator eigentlich ein, wenn er mitteilt, es bleibe bei dem Haftbefehl! Entscheidet das jetzt die Polizei und der Innensenator? Die Vertreter der Staatsanwaltschaft verhalten sich entsprechend. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist offensichtlich falsch verstanden worden. Auch die Staatsanwaltschaft ist auf Linie! Herr Passade sehe „eigentlich keine Möglichkeit “ für eine Freilassung, Frau Noltensmeier sieht den Mandanten schon überführt, er sei „bereits fünfmal als Schläger aufgefallen“. Damit vermitteln die Pressesprecher der Staatsanwaltschaft den Eindruck, es stehe bereits jetzt fest, was bisher nur als Vorwurf im Haftbefehl benannt wird und sie seien diejenigen, die entscheiden.
Und dann meint noch ein professioneller Beobachter der veröffentlichten Meinung genau gesehen zu haben, wie organisiert die Ultras auf die Besucher des Verdener Eck zugestürmt seien (buten un binnen vom 05.08.2015).
Immerhin erwähnt er noch einen Umstand, der möglicherweise ursächlich dafür ist, dass es gerade hier zu einer solchen Auseinandersetzung gekommen ist: Vom Osterdeich aus drängte die Polizei die Ultras gerade in die Arme der Hooligans, die auf eine Auseinandersetzung mit den Ultras vorbereitet waren. Immerhin wartete im Verdener Eck eine erfahrene Truppe unter Beteiligung solch einschlägiger Vereinigungen wie der Standarte 88, Nordsturm Brema, City Warriors und Freibeuter (HoGeSa- Chef „Käptn Flubber“.) Die angeblich „blutüberströmten Hooligans“ wissen sich darzustellen: Sie tragen T-Shirts mit entsprechenden Aufdrucken. Da bedarf es keiner anderweitigen Einwirkung. Merkt das denn keiner?
Käpitän Mäurer versammelt seine Mannschaft: Polizei, Staatsanwaltschaft, und Teile der veröffentlichten Meinung stimmen ein und die Richterschaft wird auch gleich angewiesen: Der Haftbefehl bleibt! Es macht den Eindruck, als glaube der Innensenator, ein gesellschaftliches Problem auf Krawall reduzieren und mit der Inhaftierung einer bestimmten Person lösen zu können. Bestrafe einen- erziehe tausend (Mäurerismus).
Es gibt nach meiner Kenntnis insgesamt 31 weitere Verfahren mit bisher 6 Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern der Ultras. Wie viele Verfahren sind gegen die Mitglieder der Hooligans anhängig? Die „Hoolizei“ fahndete öffentlich und in sozialen Netzwerken nach Valentin – Polizei und Staatsanwaltschaft vollstrecken.
Richtig ist, dass die Mehrzahl der Vorwürfe gegen „Valentin“ im Zusammenhang mit Fußballspielen von Werder Bremen stehen. Dabei erleben wir gegenwärtig eine Militarisierung der Fankultur: Geschlossene Fangruppen werden in Kesseln umgeben von Polizeibeamten zum Stadion hin und wieder zurück „begleitet“. Wer einmal drin ist, kommt nicht wieder raus. Das gilt aber eher nur für Ultras. Diese sind zu laut, lassen sich nichts gefallen und skandieren lautstark ihre Auffassungen. Wer Ursache und wer Wirkung ist wird sicherlich unterschiedlich gesehen.
Wenn man sich aber mal die Bilder anschaut, mit welch wütenden Gesten z.B. HSV-Fans die Ankunft der Bremer Fans erwarten, mit nicht nur verbalen Angriffen auf diese. Da könnte man schon auf die Idee kommen, dass bestimmte Aktionen eine Reaktion auf zuvor erlittene Angriffe gewesen sind. Warum werden diese Aggressoren nicht in Haft genommen? Gibt es hier Beweisnöte oder warum bleiben entsprechende polizeiliche und juristische Maßnahmen aus. Wenn Bilder aus Überwachungskameras ausreichen einen Tatverdacht gegen Valentin zu begründen, dann dürfte es für andere Beteiligte des anderen Lagers auch reichen.
Am Dienstagvormittag findet eine Haftprüfung statt, ob Frau Noltensmeier davon Kenntnis hat oder nicht. Dann wird der zuständige Richter entscheiden, ob der weitere Vollzug von Untersuchungshaft notwendig ist. Die Verteidigung hofft, dass sich der Richter frei machen kann von den Direktiven des Innensenators. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass es sich bei „Valentin“ um einen zum Tatzeitpunkt Heranwachsenden handelt, bei dem es zur Anwendung von Jugendrecht kommen kann. Nun wird ja nicht behauptet, der Mandant beabsichtige sich dem Verfahren zu entziehen oder etwas zu verdunkeln. Der Haftbefehl stützt sich allein auf die Vermutung, der Mandant werde sein noch nicht bewiesenes Verhalten einfach so fortsetzen, wenn er nicht aus dem Verkehr gezogen würde.
Schon diese Vermutung hat die Verteidigung von Anfang an nicht überzeugt. Zumindest jetzt, nach nunmehr erlittener Untersuchungshaft von mehr als einem Monat, könnte sich auch ein Gericht diese Zweifel zu eigen machen. Die Botschaft ist angekommen bei Valentin: Wenn da was war – dann sollte sich das nicht wiederholen! Dazu wird die Verteidigung gegenüber dem Gericht weiter vortragen. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Meldeauflagen erscheint ausreichend. Wenn die Meldeauflagen dann noch bei einem Polizeirevier absolviert werden müssen, welches sich denkbar weit weg vom Weserstadion befindet und diese Meldungen dann im zeitlichen Zusammenhang mit den angesetzten Fußballspielen erfolgen, dann dürfte die „Gefahr der Wiederholung“ soweit reduziert worden sein, dass der Vollzug eines Haftbefehls entbehrlich erscheint. Die Verteidigung hat dazu konkrete auch zeitliche Vorschläge erarbeitet, die dem Gericht in Vorbereitung auf den Termin am Dienstag vorgelegt wurden.
Wir hoffen auf einen Rest von Eigenständigkeit in der Richterschaft.
Horst Wesemann
Verteidiger“
Quelle: endofroad 07.08.2015