Dritter Prozesstag
Der Strafprozess wurde am 03.02.2016 fortgesetzt. Auch nach Bitten der Verteidiger, die Einlasskontrollen zu entschärfen und die Wartezeit für die Zuschauer_innen zu verkürzen, blieb es bei den fragwürdigen scharfen Kontrollen. Ein weiterer Antrag der Verteidiger Sürig und Wesemann, auf Beurlaubung ihrer Mandanten, wurde direkt abgelehnt. Der Staatsanwalt (StA) begründete die zwingende Anwesenheit der Angeklagten und ihrer Vertreter damit, dass insgesamt ein “Gruppendynamisches Tatgeschehen” vorläge. Die Verteidiger sahen ihre Mandanten nicht von den heutigen Anklagepunkten betroffen. Der Vorsitz konkretisierte die Ablehnung mit der Feststellung, dass Umstände die Vermutung nahe legten, die beiden Angeklagten seien “mittelbar von der Anklage betroffen”. Verteidiger Jan Sürig kritisierte, dass das Gericht es darauf anlegte, “unnötige Prozesskosten zu produzieren”. So änderte sich am heutigen Tag nichts an der Konstellation der Prozessbeteiligten.
Bevor die erste Zeugin eintrat, bemängelte Verteidiger Wesemann das Fehlen eines der den Zeugen vorgelegten Lichtbilder seines Mandanten Valentin. Dies sei zwar in der Akte der Staatsanwaltschaft, jedoch nicht in den Akten der Verteidigung zu finden. Dies habe Relevanz, da eine Zeugin angegeben hatte, auf diesem Foto den Angeklagten mit einer 60 prozentigen Wahrscheinlichkeit erkannt zu haben. Der StA wolle dies nachreichen. Hier muss kritisch betrachtet werden, dass die Verteidigung nicht die gleichen Unterlagen zur Verfügung gestellt bekommt, wie die Staatsanwaltschaft. Zu einem fairen Verfahren gehört jedoch. dass die Verteidigung die gleichen Kenntnisse über alle Daten und Beweismittel hat, wie die Staatsanwaltschaft. Im ersten Prozesstag war von der Verteidigung schon bemängelt worden, dass die StA es nicht so eilig hat, die Verteidiger zeitnah auf den gleichen Kenntnisstand zu bringen.
Am heutigen Verfahrenstag ging es um den Geschädigten, der bereits am zweiten Prozesstag kurz zum Thema wurde. Der Geschädigte Florian S gab im zweiten Prozesstag an, “zufällig” nach einem Arztbesuch mit dem Geschädigten S. in Kontakt gekommen zu sein, welcher Parallelen zu seiner eigenen Geschichte zu erkennen glaubte. (Siehe Bericht AKJ 2. Prozesstag) Der Geschädigte Florian M. selbst gab am zweiten Prozesstag auffallend an, der Geschädigte S. sei ihm selbst unangenehm aufgefallen. Er würde ihn vom Aussehen her selbst als “Nazi” beschreiben.
Heute war zunächst die Mutter von S. als erste Zeugin geladen. Ihr Sohn sei am 02.03.2014 an der Bushaltestelle Heinrich-Herz-Str. von zwei Personen körperlich angegriffen und als “Nazi” beleidigt worden. Die als Zeugin geladene Mutter von S. war zur Tatzeit bei ihrem Sohn, der sie damals an der Bushaltestelle verabschiedete. So seien in diesem Moment zwei Täter quasi aus dem Nichts aufgetaucht, hätten ihren Sohn direkt angesprungen und mit dem Kopf gegen die Glaswände der Haltestelle gestoßen. Dabei habe auch sie in dem Gerangel leicht was abbekommen. Die Täter sollen den Geschädigten S. mit den Worten angesprochen haben: “Warum trägst du diesen Pullover?”. Die Mutter erinnerte sich später in der Vernehmung, dass auf der Kleidung ihres Sohnes das Label: (Thor) Steinar abgebildet war. Die Mutter betonte aber, ihr Sohn sei “kein Nazi, der nicht”.
Auf die Fragen der Vorsitzenden, welche Kleidung die Täter gehabt haben, beschrieb die Mutter des Geschädigten die Kleidung vage als “dunkel. Zu den äußerlichen Merkmalen beschrieb sie die Haarfarbe der Täter als “dunkelhaarig, braun oder dunkelblond”. Auch bei den Körpergrößen oder anderen Merkmalen machte die Zeugin weiter nur vage Angaben und betonte immer wieder, dass sie es einfach nicht mehr so genau wisse. Hingegen konnte sie gut beschreiben, welche Kleidung ihr Sohn trug.
Der Vorsitzende zitierte die Aussage der Mutter zu Protokoll der Polizei gleich nach der Tat wie folgt: “Die Mutter konnte keine ergänzenden Aussagen machen. Die Mutter könnte die Täter auch nicht wiedererkennen”. Dies ist insofern relevant, da der Zeugin viel später noch einmal Lichtbilder durch die Ermittlungsbehörden gezeigt wurden. Diese Fotos zeigten nach Darstellung der Verteidigung jedoch überwiegend wohl nur den Angeklagten Valentin. Auch wurden nicht, wie durch den BGH in Strafsachen zwingend vorgegeben, pro Täter 8 – 10 Fotos von verschiedenen Personen aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt, sondern insgesamt nur ca. 4 Fotos, darunter vom Angeklagten Valentin.
Auf die Aufforderung der Vorsitzenden, sich die Angeklagten im Gerichtssaal anzusehen und zu sagen, ob sie hier einen der vermeintlichen Täter wiedererkenne, erklärte sie: “Der ganz rechts, der war dabei!” und zeigte auf den Angeklagten Valentin. Die anderen Angeklagten schloss sie eher aus. Dass das Zustandekommen dieser Aussage der Zeugin aus verfahrensrechtlicher Sicht höchst problematisch ist, kritisierte der Verteidiger Wesemann. Die Aussagen der Zeugin seien für dieses Verfahren ohne jeden Wert. Wesemann machte deutlich, dass hier sichtbar würde, was der BGH in Strafsachen ausdrücklich für saubere Ermittlungsverfahren vorsehe, aber im Verfahren offenkundig keine Berücksichtigung fände.
Auch der Arbeitskreis kritischer Jurist_innen muss diese Praxis der Ermittlungsbehörden scharf kritisieren. Es entsteht der Eindruck, die Zeugin sei nicht neutral an verschiedene Lichtbilder herangeführt worden, sondern einseitig an eine durch die Staatsanwaltschaft gewünschte Person. Sollten tatsächlich nur wenige Lichtbilder gezeigt worden sein, auf denen hauptsächlich der Angeklagte Valentin S. zu sehen war und dies auch erst über ein Jahr nach der Tat, so kann nicht ernsthaft daran festgehalten werden, dass hier mit einer sauberen Verfahrensweise belastende Beweismittel zustande gekommen sind. Diese Praxis läuft dem Grundsatz zuwider, dass auch entlastende Beweise ermittelt werden müssen. Der Hinweis der Mutter gleich nach der Tat, die Täter “nicht wieder erkennen zu können” und die mehrfache Wiederholung am heutigen Prozesstag, sie erinnere sich nicht an irgendwelche Details zu den Tätern, lassen ihre Aussage “der Angeklagte Valentin” sei dabei gewesen, in einem anderen Licht erscheinen. Dass hier nicht mehr daran festgehalten werden kann, dass die Zeugin Valentin als einen der Täter erkennt, sondern durch die Methode der Ermittlungsbehörden nun lediglich glaubt, ihn zu erkennen, sollte einleuchten. Der Zweifel dass die Mutter sich nun nicht mehr korrekt erinnert, sollte allein ausreichen, dass das Gericht die Aussage der Mutter nicht weiter belastend in das Urteil aufnehmen wird.
Interessant ist an diesem Prozesstag ebenso, dass der geschädigte Zeuge S. trotz Ladung nicht erschienen ist. Die Mutter gab an, ihr Sohn sei in Polen bei seiner Freundin und habe dort auch “keine Anschrift”, lediglich telefonischen Kontakt. Das Gericht stellte fest, dass der Zeuge in Deutschland mit Strafbefehl gesucht würde. Dennoch habe die StA dem Zeugen S. angeboten, dass dieser an der Grenze zur Bundesrepublik seine Aussage zur Sache vornehmen lassen könne. Dies habe der Geschädigte S. allerdings abgelehnt.
Die Verteidigerin Voigt gab dem Gericht Photoabzüge, die den Geschädigten S. auf Profilen bei Facebook zeigen. Diese wurden zur Augenscheinnahme am Pult der Vorsitzenden begutachtet. Die Mutter des Geschädigten bestätigte dem Gericht, dass es sich auf den Abzügen um ihren Sohn handele. Verteidiger Weseman erklärte in dem Zusammenhang der Zeugin, dass ihr Sohn mit Organisationen wie den sogenannten „Freibeutern“ zu tun habe.
Die zweite Zeugin, eine Studierende aus Bremen, erinnerte sich wie folgt:
Der kleinere von beiden sei plötzlich aufgesprungen und hätte dem Geschädigten ins Gesicht geschlagen und “Scheiß Nazi” gerufen. Dann habe der Mann gesagt, er sei Pole und habe ihm sein Tattoo gezeigt, auf dem wohl das Wort „POLSKI“ zu lesen war. Dann hätten die Täter gesagt, er sei “selber Schuld wenn er eine Nazimarke” trüge und weggerannt. Der Geschädigte sei dann hinterher gelaufen, hätte sie aber aus den Augen verloren. Der Geschädigte habe eine Bomberjacke getragen und unter dieser einen weißen Pullover. Die Zeugin vermutete, beide hätten das gleiche Logo gezeigt. An den Schriftzug selbst konnte sie sich jedoch nicht erinnern.
Der StA fuhr plötzlich zwischen die Vernehmung der Zeugin und wies den Angeklagten Wesley S. an, es unverzüglich zu unterlassen, seine Hände vor sein Gesicht zu bringen. Er unterstellte dem Angeklagten, er wolle damit verhindern, dass die Zeugin ihn erkennen könne. Aus der Beobachtung des AKJ kann diese Unterstellung nicht geteilt werden. Der Angeklagte hatte über alle Prozesstage hinweg immer wieder sein Gesicht mit den Händen abgestützt und war sich, auch ohne dass Zeugenvernehmungen stattfanden, immer wieder mit den Händen durch sein Gesicht gefahren.
Die zweite Zeugin hatte zwar zu den Geschehnissen genauere Erinnerungen von dem Tag und erinnerte sich sogar an diverse Details wie äußerliche Merkmale der Täter, aber auch sie konnte auf die Frage hin, ob sie einen der Angeklagten im Saal erkennen könne, niemanden mit Bestimmtheit ausmachen. Einen der Angeklagten schloss sie sogar gänzlich aus, bei den anderen war sie sich ebenso unsicher, wie sie es schon war, als ihr 50 verschiedene Lichtbilder gezeigt wurden. Damals hatte sie zwar für einen der Angeklagten eine 60 prozentige Wahrscheinlichkeit angegeben. Heute stellte sie jedoch klar, dass dies auch nicht so viel bedeute. Sie sei sich einfach “bei Niemanden der gezeigten Personen zu 100 Prozent sicher”.
Der dritte Zeuge, ein Polizeibeamter, der damals die Aussagen vor Ort protokollierte, hatte im Verfahren keine neuen Informationen hinzuzufügen.
Auch der dritte Prozesstag brachte wenig Erhellendes oder Belastendes gegen die drei Angeklagten.
Der Prozess wird am 15.02.2016, 09.00 Uhr im Landgericht Bremen fortgesetzt.
Arbeitskreis kritischer Jurist_innen Bremen
2 Antworten
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