Mit welchen “Meinungen” ihr es euch bequem macht und euch vor eurer Verantwortung drückt
Vor einiger Zeit war ich auf einer Veranstaltung der taz zum Thema rechte Netzwerke, von der ich sehr bedrückt nach Hause ging. Die Journalist’innen Andrea Röpke und Andreas Speit haben dort von ihren jahrelangen Recherchen berichtet, deren Ergebnisse leider noch viel erschreckender waren, als ich erwartet hatte.
Sie berichten unter anderem, dass führende Figuren der rechtsextremen Szene mittlerweile als Mitarbeiter im Bundestag angekommen sind. Die Netzwerke konnten über viele Jahre ungehindert und unbemerkt wachsen, die verschiedenen Ableger unterstützen sich gegenseitig und sind bestens vernetzt. Was mich besonders trifft, ist diese Aussage von Speit: “Die Massivität des Kulturkampfes von rechts wird unglaublich unterschätzt. Die Tragweite mit der wir es hier zu tun haben, ist der breiten Öffentlichkeit überhaupt nicht klar. Mit 1-3% der Bevölkerung als Akteur’innen kann man gesamtgesellschaftliche Veränderungen bewirken, und das wissen die. Und dass das funktioniert sehen wir an den öffentlichen Themen.“ Weiter sagt er: „Die Erfahrung aus unseren Recherchen hat auch für uns ganz klar gezeigt: Mit diesen Ideologieproduzenten ist ein Dialog auf Augenhöhe NICHT möglich! Es hat diverse Versuche gegeben, aber die wollen Recht haben! Sonst nichts!“ Darauf komme ich später nochmal zurück. Am Ende des Abends sagt er noch: „Die Zeit, dass das alles egal ist, ist vorbei! Die führen einen Kampf, und das muss endlich ankommen!“
„Die Tragweite mit der wir es hier zu tun haben, ist der breiten Öffentlichkeit überhaupt nicht klar“
Eine Meinung zu allem möglichen hat ja heute praktisch jede’r. Aber wie diese Meinungen zustande kommen, unterscheidet sich doch sehr, denn die meisten hierzulande sehen die Lage weit weniger ernst, als Röpke und Speit berichten. Erst kürzlich entgegnete mir jemand in einer Diskussion über die AfD, dass die AfD in seinen Augen kein Grund zur Sorge wäre, weil die ja “nichts zu melden hat”. Meine Augen blicken derweil nach Sachsen, wo die AfD bei den Wahlen im September anstrebt, stärkste Kraft zu werden. Wie ignorant kann ein Mensch sein? Er ist weiß und cis-hetero, er gehört keiner der Gruppen an, die sich bedroht fühlen müssen. Da kann man das schonmal easy raushauen, dass die AfD kein Grund zur Sorge ist, und deren Erfolge einfach wegschmunzeln, und sich so eine Meinung, die den Fakten widerspricht, locker leisten. Solidarität mit Schwächeren ist das definitiv nicht, und Verantwortung übernehmen ebenso wenig. Das ist eine Meinung, um sich das Leben leicht zu machen. Auf Kosten der Schwächeren.
Eine Meinung ist dann eine “gute” Meinung, wenn sie fundiert ist, wenn sie auf der Grundlage von faktischem Wissen und Information gebildet wurde. Eine Meinung, die ausschließlich auf Empfindungen, Eindrücken und gefühlten Wahrheiten oder gar Fake News beruht, ist auch eine Meinung, aber sicherlich keine, die über alle anderen erhaben ist, und die einen Anspruch auf Vollständigkeit und absolute Wahrheit erheben kann.
Eine gute Meinung bzw. Meinungsbildung zeichnet sich, unabhängig von ihrem inhaltlichen Gegenstand, vor allem dadurch aus, dass sie sich durch einen Prozess über einen gewissen Zeitraum entwickelt, und auch danach immer offen bleibt für neue Informationen, und ggf. eine notwendige Anpassung. Lebenslanges Lernen und so.
Expertisen anderer ernst nehmen und lebenslanges Lernen als Basis für die eigene Meinung
Es gibt IMMER Leute, die sich mit etwas besser auskennen als ihr, und es lohnt sich, ihnen zuzuhören. Da können wir nämlich höchstwahrscheinlich was lernen! Sprecht niemandem seine’ihre Expertise ab, wenn ihr sie nicht selbst habt, oder ihr die der Person nicht mal richtig kennt! Das ist ein erster wichtiger Schritt. Protipp: Zuhören heißt nicht, sich zurückzulehnen und einzufordern. Betroffene sind oft gezwungen, sich permanent erklären zu müssen, und haben viele Diskussionen schon hunderte Male geführt. Es ist ermüdend und zermürbend, immer wieder in Frage gestellt zu werden. Wenn eine Person keine Kraft hat, etwas was du nicht verstehst, weiter auszuführen, dann recherchier auch mal etwas selbst. Das Internet bietet diverse großartige Quellen, wo Betroffene vieles bereits gut erklärt haben. Und du brauchst auch nicht so zu tun als wäre das eine unüberwindbare Herausforderung, die Pornos die du willst, findest du ja schließlich auch.
Eine Expertise kann viele Formen haben. Das kann eine berufliche Qualifikation sein, oder ein Abschluss in einem Fachgebiet, aber ebenso Fachwissen aufgrund langjähriger ehrenamtlicher Tätigkeit, wie politischem Aktivismus, und last but not least: Die Erfahrungen am eigenen Leib aufgrund von persönlicher Betroffenheit, durch Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe, bezüglich des jeweiligen Themas. Ihnen ihre Expertise absprechen, sieht im Alltag häufig so aus: Eine marginalisierte Person erzählt von etwas, was ihr passiert ist, z.B. von einer diskriminierenden Situation. Die privilegierte (nicht-marginalisierte) Person zweifelt an der Glaubwürdigkeit der Erzählung, weil sie sich “das überhaupt nicht vorstellen kann”, weil sie sowas selbst schließlich noch nie erlebt hat. Und GENAU DAS ist der Punkt: Nur weil etwas in eurer Lebensrealität nicht vorkommt, heißt es NICHT, dass es nicht existiert! Im Gegenteil: Wenn etwas für euch nicht vorkommt, zeigt das umso deutlicher, wie gut es euch geht, und dass ihr über die Privilegien verfügt, dass ihr sowas nicht erleben MÜSST. Das sollte euch folglich erst recht stutzig und aufmerksam für die Lebensrealität anderer machen, die diese Privilegien nicht haben. Genau diese Tatsache, genau dieser Unterschied. Deshalb: Hört den Betroffenen zu, bevor ihr sie mit eurer Meinung beglückt.
“Aber wir haben ja Meinungsfreiheit!” hör ich jetzt schon wieder einige blöken. Die viel bemühte Meinungsfreiheit, in deren Glanz wir uns hierzulande sonnen können, bedeutet, dass jede’r seine’ihre Meinung sagen darf ohne direkt in den Knast zu wandern, aber NICHT, dass jede’r zuhören muss – um ein Missverständnis auszuräumen. Die Meinungsfreiheit endet allerdings dort, wo du mit deiner “Meinung” die Freiheit anderer Menschen einschränkst, indem du sie abwertest, ihre Existenz in Frage stellst, oder sie gar bedrohst. Rassismus ist keine Meinung, sondern Abwertung und Menschenhass, und ggf. ein Straftatbestand nach §130 StGB. Deshalb muss niemand das tolerieren, nirgendwo, nie! Und mit Meinungsfreiheit hat das wie gesagt überhaupt gar nichts mehr zu tun. Und wenn du meinst, mit Rassismus und Gewaltverherrlichung nach unten zu treten, wäre “Humor”, weil es lustig ist über Betroffene zu lachen, dann ist das auch das Ende jeder Diskussion.
Diskutieren heißt, Interesse am Gegenüber zu haben und voneinander lernen zu wollen
Überhaupt: Diskussionen. Diskutieren heißt nicht, dein Gegenüber zum Schweigen bringen zu wollen. Diskutieren bedeutet, voneinander lernen zu wollen, zuzuhören, über das Gesagte nachzudenken, darauf einzugehen, und hinterher gemeinsam zu neuen Erkenntnissen oder Einsichten gekommen zu sein, wenn auch nicht immer der gleichen Meinung zu sein. Agree to disagree, aber zumindest die andere Seite nachvollziehen können. Wer in eine Diskussion mit “Das ist meine Meinung, und die steht fest!” einsteigt, hat kein Interesse an einem Austausch, und muss sich folglich nicht wundern, wenn die Diskussion mit ihm*ihr dann konsequenterweise abgelehnt wird. Dasselbe gilt für Menschen, die in einer Diskussion in keiner Weise auf die Argumente der anderen Seite eingehen, sondern ihren Standpunkt einfach ständig wiederholen und betonen. Auch das ist keine Diskussion, weshalb dieses Gespräch dann auch direkt beendet werden kann. Ganz lustig wird es dann, wenn die abgewiesene Seite der anderen dann vorwirft, die “Diskussion” abzubrechen, weil ihr angeblich die Argumente fehlen. Aber weil diese abgewiesene Seite ja offenkundig überhaupt kein Interesse an den Argumenten der anderen hat, hat es demzufolge auch nie eine Diskussion gegeben. Aber naja, Recht haben wollen, positives Selbstbild erzeugen und so…
Und jetzt kommen wir mal direkt als erstes konkretes Beispiel zum absoluten Hottake in Sachen Meinung und Diskussionskultur, dem ich hier aufgrund seiner Relevanz etwas mehr Raum gebe:
Soll man mit Rechten reden? Nein.
Warum nicht? Enno Park, Publizist und Speaker, hat das auf Twitter kürzlich so erläutert: “Nazis grenzen aus und wenden Gewalt an. Deshalb haben Leute offenbar eine Hemmung, ihrerseits Nazis auszugrenzen oder Gewalt gegen sie anzuwenden, weil sie Angst haben, dann „Nazimethoden anzuwenden“, „selber Nazi“ zu sein. Logisch ist das nicht – siehe poppersches Toleranzparadox (siehe Abbildung). Es ist ungefähr so, als habe man Angst, eine Polizei einzurichten, weil diese ja selbst „verbrecherische Methoden“ verwende, wenn sie ihrerseits gegen Verbrecher vorgeht. Mit dem Gedanken „ich bin so tolerant, dass ich sogar Nazis toleriere“ darf man sich „besser“ fühlen. Man begibt sich in eine vermeintlich unangreifbare Superposition. Das ist sehr bequem, weil man nichts mehr gegen Nazis tun muss, weil die eigene Toleranz es verbietet.
Soviel zum Aspekt der Bequemlichkeit. Es gibt aber auch eine psychologische Erklärung, warum der Versuch keinen Sinn macht: Eine gefestigte Ideologie, die starken Identifikationscharakter hat, lässt sich NICHT durch Argumente von außen verändern. Dadurch erreicht ihr sogar das Gegenteil, weil es als Angriff auf das Selbstbild verstanden, also persönlich genommen wird.
Die einzigen, die Menschen mit gefestigter menschenfeindlicher Ideologie umstimmen können, sind sie selbst. Dazu müssen sie allerdings ihr komplettes Selbst- und Weltbild überdenken, was man nicht einfach so mal eben macht. Damit das (wenn überhaupt) in ihnen angestoßen wird, sind unmissverständlich klare Signale aus der Umwelt unbedingt erforderlich. Deswegen ist es absolut notwendig, immer und überall klare Ansagen zu machen; zu zeigen: Deine Weltsicht tolerieren wir nicht. Sie unkommentiert gewähren zu lassen führt zu Normalisierung und Akzeptanz, zu nichts anderem.
Mit Rechten reden führt zu Normalisierung und Akzeptanz – und das schon sehr erfolgreich wie wir sehen
Aber viele halten sich einfach gerne an der hippieesken Vorstellung fest, dass man nur mal mit den Rechten reden müsse, und man sich danach fröhlich und erleichtert in die Arme fällt. Weil das so schön, simpel und logisch klingt, dass man jemandem Dinge einfach nur mal erklären müsse, der’diejenige das dann versteht, und alles ist wieder gut. Man sollte auch mit Menschen reden, die sozusagen noch „unentschlossen“ sind, und sich der menschenfeindlichen Ideologie noch nicht angeschlossen haben. Aber wer in Thor Steinar Klamotten rumläuft, und Kategorie C hört, der macht das nicht aus Versehen, oder zufällig. Der hat sich entschieden, der weiß ganz genau was er da tut, und vor allem warum er das gut findet. Und wenn ich mit ihm rede, als ob nichts wäre, signalisiere ich: Du bist okay, ich akzeptiere dich in meiner Gesellschaft. Eine Trennung zwischen Mensch und der Ideologie, die er vertritt, findet in unserer sozialen Informationsverarbeitung nicht statt. That’s NOT how human brains work! Auch wenn ihr das gerne hättet. Und bei einer dermaßen identitätsstiftenden Ideologie wie der von Rechten ist der Versuch einer Trennung von Gedankengut und Person absolut sinnfrei.
Und wenn ihr jetzt sagt “Aber dann werden die ja noch wütender!”: Gesteigerte Wut wegen Ausschlusses ist wenn überhaupt eine kurzfristige Folge, birgt aber für jede’n einzelne’n die Chance, diese geschlossene Reaktion der Umwelt als Signal wahrzunehmen und nachzudenken. Wenn mich von 20 Leuten in meinem Umfeld 10 ablehnen, die anderen 10 aber nicht, hab ich erstmal noch keinen Anlass die Ablehnung ernst zu nehmen, sondern fühle mich von den anderen 10 akzeptiert und bestätigt. Lehnen mich aber alle 20 meiner guten Freund*innen plötzlich ab, wird die Luft dünn, und ich bin je nach Charakterstärke irgendwann gezwungen, mal über mich und mein Auftreten nachzudenken, wenn mir diese Freund’innen am Herzen liegen. Und wenn nicht, ist die Ideologie so tief verwurzelt, dass dieser Mensch nicht mehr zu retten ist, schon gar nicht durch reden.
Rechte in Schutz nehmen als Akt der Selbstberuhigung und Schutz der eigenen rassistischen Projektionen
Enno Park findet hier noch die Ergänzung, dass sich “Bruchstücke und Einzelmotive nazistischer Ideologie bis weit in die Mitte der Gesellschaft [finden]. Fast alle hatten zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens und Persönlichkeitsentwicklung wohl schon mal irgendeinen „Nazi-Gedanken“. Hier findet eine Form der Verdrängung statt. Stur darauf zu beharren, dass Nazi nur sein kann, wer 1920-1945 ein Parteiabzeichen trug oder heute Hitler geil findet, enthebt von Selbstreflexion: Wieviel diskriminierendes, völkisches, rassistisches usw. Denken steckt in mir? Stattdessen werden Definitionskämpfe ausgefochten, was genau denn ein Nazi sei oder wohin die denn bei „Nazis raus“ geschickt werden sollen. Das sind Scheinargumente, die helfen, den kleinen Nazi in einem selbst verdrängen zu können.”
An dieser Stelle möchte ich mal darauf hinweisen, dass diejenigen, die ganz eifrig nach Differenzierung rufen, weil ja nicht alle gleich Nazis seien, offenbar überhaupt kein Problem damit haben, Begriffe in ihrer alltäglichen Sprache zu verwenden, die sehr klar und eindeutig der rechten Szene zugeordnet werden können. Ihr wisst nicht, welche Begriffe das sein könnten? Abgrenzung also auch mal wieder nur dann, wenns in den Kram passt und keine Mühe macht, weil man vor der eigenen Tür kehren müsste. Und noch ein Hint: Differenzierung dient nicht der Relativierung, auch wenn ihr das gerne hättet.
Wer Differenzierung will, muss bei sich selbst anfangen!
Park weiter: “Wenn Leute emotional wesentlich mehr Anteil an Gewalt gegen AfD-Politiker nehmen als an Gewalt gegen Flüchtlinge, dann weil es sie stärker betrifft. Der AfD-Politiker ist einer von ihnen, einer von uns. Die Mitte hat Angst, mit ihm verwechselt zu werden. […] Der Faschist glaubt an das Recht des Stärkeren und verachtet und bekämpft die „Schwachen“ offensiv.”
Diese ganze Anteilnahme, die Rechten nicht ausgrenzen zu wollen, hat also auch viel mit der Identifikation mit ihnen zu tun (das habe ich in diesem Artikel ausgeführt). Das kann ja mal jede’r von euch so auf sich wirken lassen, der’die sich von der Aussage, mit Rechten reden ist falsch, getriggert fühlt.
Identifikation hat auch immer was mit Abgrenzung zu tun. In Zeiten wachsender Unsicherheit ist das Bedürfnis sich nach unten abzugrenzen besonders groß. Bloß nicht zu den Schwachen gehören, nicht ins Fadenkreuz geraten! Die Schwachen im Sinne des florierenden, rechten Gedankenguts sind z.B. Linke, Frauen, People of Colour, die LGBTQIA-Community, Menschen mit Behinderung, und Obdachlose. Faschismus ist nicht nur eine Staatsform, sondern vielmehr eine Weltanschauung, die nach Kontrolle und Herrschaft über alles strebt, was lebt, wie Klaus Theweleit schreibt, und Margarete Stokowski aktuell in ihrer Kolumne aufgreift.
Abgrenzung als Selbstschutz – bloß nicht zu den Schwachen gehören
Und schließlich der wichtigste Punkt zu diesem Thema: Es geht in erster Linie um den Schutz derjenigen, die durch Nazis ganz direkt und unmittelbar realer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sind!! Verdammt noch mal. Wenn du Rechte verteidigst, und nicht ausgrenzen willst, sorgst du dich offenbar mehr um ihr Wohlergehen, als um das ihrer Opfer. Auch das können wir an dieser Stelle so stehen lassen.
Kommen wir zur nächsten faulen Ausrede: “Für mich sind alle Menschen gleich!” oder “Ich sehe keine Hautfarben!”
So kann nur jemand reden, der’die noch nie selbst erlebt hat, wie es ist, wenn unsere Gesellschaft dich 24/7 spüren lässt, dass du eben NICHT gleich bist, sondern dich strukturell benachteiligt und diskriminiert, du Gewalt erfährst, und du keine Privilegien genießt. Wenn die Polizei dich anlasslos wegen deiner Hautfarbe kontrolliert, wenn du in Geschäften unfreundlich behandelt wirst, weil das Personal wegen deiner Hautfarbe denkt, dass du klaust. Wenn du in einer Behörde gegängelt wirst, wenn du in der Schule von den Lehrer’innen (auch unbewusst) schlechter bewertet wirst, weil du Migrant’in bist. Und wenn du auf der Straße und im öffentlichen Raum allgemein Angst haben musst, Opfer von körperlicher Gewalt zu werden. Übrigens hat Gewalt viele Gesichter, körperliche Gewalt ist nur eins davon. Alles, wodurch auf einen Menschen Zwang ausgeübt wird, ist per Definition Gewalt. Behördliche Sanktionen und anderer psychischer Druck durch Abwertung sind ebenfalls Gewalt, die viele Menschen jeden Tag erfahren, und die in der Öffentlichkeit unsichtbar gemacht wird.
Und: Die Menschen, die davon betroffen sind, können aus dieser Rolle, aus ihrer Haut nicht einfach aussteigen. Sie erleben verschiedene Formen der Gewalt, jeden Tag. Das macht etwas mit einem Menschen, es verändert ihn, sein Verhalten, und sein Selbstbild. Es macht den Menschen kaputt.
Die Autorin Imoan Kinshasa schreibt zur Wahrnehmung und zum Umgang mit Rassismus:
“Wir lernen früh, dass Rassismus eine Tat ist, die von einem Individuum mit böser Absicht ausgeführt wird. Rassismus ist aber nicht nur, dass Nazis einen Ausländer verdreschen oder Asylunterkünfte anzünden. Rassismus beschränkt sich nicht auf eine einzige bösartige Handlung einer Person, es ist ein System, in dem wir leben und sozialisiert werden. Rassismus sind Reaktionen und Denkweisen, die wir erlernen und nicht hinterfragen.” Hier der ganze Text, den ihr wirklich lesen solltet. Das erklärt nebenbei auch, wieso es keinen Rassismus gegen Weiße gibt: Weil es kein jahrhunderte altes, kollektives System gibt, das ihn trägt, mit all seinen Auswirkungen, wie dem Verlust bzw. Vorenthalten von Privilegien. Wenn dich jemand Alman oder Kartoffel nennt, und du dich davon beleidigt fühlst, ist das trotzdem kein Rassismus. Get over it.
Rassismus ist ein System, aus dem die Betroffenen nicht enkommen können – realisiert das!
Jetzt denk nochmal nach, was es bedeutet, wenn du so ganz easy sagst, für dich wären alle Menschen gleich. Ich weiß, klingt halt so schön gönnerhaft und geht gut über die Lippen, schafft moralische Wohlfühlatmosphäre. Aber du negierst all diese Erfahrungen und Leidensgeschichten, die Gewalt und den realen Alltag all dieser Menschen. Und du leugnest damit, Teil dieser Gesellschaft zu sein, die diese Gewalt ausübt, und durch die du überhaupt nur zu deinen Privilegien gekommen bist. Du drückst dich vor deiner Verantwortung. Sonst nichts.
Davon abgesehen ist das ohnehin Bullshit, weil WIR ALLE rassistische und sexistische Verhaltensmuster sehr tief internalisiert haben. Weil wir nämlich alle in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind, die auf diese Muster aufgebaut ist. Das trifft sogar auf Betroffene zu, die darum manchmal glauben, sie hätten es nicht anders verdient, und aus Gewohnheit und der Hoffnung auf Akzeptanz selbst über diskriminierende Witze lachen. Kommt mir also nicht mit “Ich hab nen Schwarzen Freund, der findet das N-Wort überhaupt nicht schlimm!”. Abwertende Sprache ist schlimm und verachtenswert, du verletzt damit Menschen und trägst zum Erhalt der herrschenden Strukturen bei. Vollkommen wurscht, ob du jemanden kennst, der aus internalisierter Gewohnheit gelernt hat, sich dem Ton anzupassen.
Die Gesellschaft prägt uns, davon bist du nicht ausgenommen!
Ein gutes Beispiel für internalisiertes Verhalten finden wir bei solchen Argumenten gegen Feminismus: “Aber es gibt auch Frauen, die Feminismus scheiße finden, und auch bei den Rechten gibt es Frauen! Wie passt das denn zusammen, wenn Rechte doch Frauen angeblich bekämpfen?”
Die Kontrolle, also Macht, zu haben, heißt Sicherheit zu haben, weil man selbst bestimmen kann, was geschehen soll. Wie ausgeprägt das Sicherheitsbedürfnis ist, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Eine neue Freiheit an Möglichkeiten der Lebensgestaltung kann auch verunsichern und Angst machen. Deshalb bleiben manche Frauen lieber in ihrer vorbestimmten Rolle, das gibt ihnen Orientierung und Sicherheit. Was viele Männer selbstverständlich begrüßen, weil ihre Vormachtstellung damit unangetastet bleibt, und nicht durch eine Frau die plötzlich eigene Wünsche und Bedürfnisse hat, in Frage gestellt wird. Deswegen passt das an der Stelle so gut mit rechtem Gedankengut zusammen. Der kardinale Denkfehler ist, dass “der” Feminismus diese traditionelle Rolle abschaffen will. Das ist totaler Blödsinn. Intersektionale Feminist’innen wollen erreichen, dass jeder Mensch (nicht nur Frauen) sich vollkommen frei entscheiden kann, wie er’sie leben möchte, indem alte Muster, die auf Machtgefälle, Abhängigkeiten und aggressivem Konkurrenzverhalten aufgebaut sind, aufgebrochen und überwunden werden. Bell Hooks hat das in ihrem Buch “Feminism is for Everybody” ausgeführt. Darüber hinaus spielt hier das Thema Anbiederung bei der herrschenden Klasse eine wichtige Rolle. Mit den Wölfen zu heulen, um ein kleines bisschen an der Macht teilzuhaben, und den Kopf getätschelt zu bekommen. Bloß: Ein Wolf wirst du deswegen trotzdem nie. Aber manchen reicht die Position der ewigen Steigbügelhalterin, statt mit den anderen dafür zu kämpfen, selbst aufs Pferd zu kommen. Ist halt einfacher so.
Wenn du behauptest, DU siehst die Welt aber anders, und DU hättest keine rassistischen, sexistischen oder anderen diskriminierenden Verhaltensweisen, dann nehm ich dir das allerhöchstens dann ab, wenn du allein auf dem Mond aufgewachsen bist. Du bist hier sozialisiert worden, also übernimm auch Verantwortung für dein Verhalten.
Auch gerne genommen ist sowas: “Ich bin bereit die Schwächeren zu unterstützen, aber die Person muss mich erstmal überzeugen, dass sie meine Unterstützung verdient hat, und kein trittbrettfahrender Jammerlappen ist.”
Sprich der betroffenen Person NIEMALS ihre Gefühle ab! Auch wenn du etwas, was du gesagt hast, “nicht so gemeint” hast. Dann entschuldige dich, und mach es nächstes Mal besser. Die Deutungshoheit was rassistisch, sexistisch oder sonstwie diskriminierend ist, liegt NICHT bei dir, wenn du nicht betroffen bist!
Wenn es dir wichtiger ist, zu selektieren (weil du tatsächlich meinst, das wäre notwendig, weil du der Person nicht glaubst), und deine Solidarität damit an Bedingungen (und zwar DEINE Bedingungen) zu knüpfen, bist du Teil des Problems. Dann erkennst du das Leid von Marginalisierten nur an, wenn sie in deinen Augen (und nicht in ihrem Erleben und Empfinden) ihr Leid bewiesen haben. Mehr privilegiertes Denken geht kaum noch. Kommt alle mal von eurem hohen Ross runter, ihr Arschgeigen. Wie wäre es mal mit Demut gegenüber den Betroffenen? Weil die jeden Tag Dinge ertragen, die euch ein Leben lang erspart bleiben! Und das zusätzlich zu dem individuellen, persönlichen struggle, den wir alle haben. Rassismus und Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Antisemitismus und Ableismus sind jeden Tag real.
Ganz weit oben mit dabei ist dann auch: “Oh Mann, heutzutage ist ja wohl ALLES rassistisch, sexistisch, oder irgendwie diskriminierend! NICHTS darf man mehr!!”
Aufgepasst: Ja, SEHR vieles, was wir sehr lange als normal und okay kennen gelernt haben, ist wirklich diskriminierende Kackscheiße. Weil, wie ja bereits erwähnt, diese Mechanismen einen unmittelbaren Zusammenhang mit den herrschenden Machtverhältnissen haben, in denen wir leben. Sie tragen maßgeblich dazu bei, diese Machtverhältnisse zu erhalten. Also ja, krass wie weit diese Dinge in unser Leben verflochten sind, oder? Und noch krasser, sich jetzt vorzustellen, wie die Betroffenen sich dabei fühlen müssen. Und so richtig krass wäre es, aufzuhören rumzuheulen, wie anstrengend es ist, dass du jetzt mal anfangen musst auf andere Rücksicht zu nehmen und über das nachzudenken, was du machst.
Fühlst du dich jetzt angegriffen? Gut, dann bist du nämlich gemeint!
Und wenn du jetzt kommst mit: “Das ist mir alles zu radikal! So können Veränderungen nicht gelingen!”
Veränderungen werden NIE von den Machthabenden angestoßen, oder von denen, die zufrieden sind, weil sie von den bestehenden Verhältnissen profitieren. Logisch, oder? Veränderungen werden von denen erkämpft, die unzufrieden, benachteiligt, oder unterdrückt sind. Mit freundlich Nachfragen wurde noch keine Sache von Machthabenden für Minderheiten erkämpft.
So, jetzt hab ich euch einen Spiegel vorgehalten, und der Blick da rein ist bisweilen ziemlich unangenehm. Aber auch wenn sich heute alle gerne mit dem Label schmücken, weils gerade total angesagt ist: Selbstreflexion bedeutet nicht, sich vor den Spiegel zu stellen und sich zu beweihräuchern, was für ein geiler Typ du bist! Selbstreflexion ist es dann, wenn es dahin geht, wo es weh tut. Hinterfrag deine Verhaltensweisen gegenüber anderen Menschen. Untersuch deine Trigger: Warum werd ich bei diesem einen Gedanken aggressiv? Hast du vielleicht das Gefühl, dir wird etwas weggenommen, weil du anderen etwas zugestehst? Warum? Was genau stört dich an bestimmten Vorstellungen, und warum? Welche Vorurteile und abwertendes Denken stecken dahinter? Geh an deine gedanklichen Grenzen, und überwinde sie. Ihr könnt an euch arbeiten und es jeden Tag ein bisschen besser machen. Das ist die Chance, euch reell weiterzuentwickeln und Gesellschaft neu zu gestalten. Es ist sehr befreiend, die Widersprüche abzulegen und sich einzugestehen, dass man sich scheiße verhalten hat, aber ab sofort einen anderen Weg geht.
Abschließend habe ich hier einen Auszug aus einem Interview mit dem Soziologen und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer für euch, als Inspiration, wie und wo ihr in eurem Alltag anfangen könnt:
W.H.: Der Alltag ist entscheidend. Dort müssen die Auseinandersetzungen geführt werden.
Es muss gestritten werden?
W.H.: Ja, überall, um mühsam erkämpfte liberale Normen wenigstens zu verteidigen. Auf Verwandtschaftstreffen, bei Weihnachtsfeiern, im Verein, im Betrieb. Was passiert eigentlich, wenn dort jemand rechtsextreme oder autoritäre Sprüche ablässt? Bin ich in der Lage, dort zu intervenieren? Dazu bedarf es eines ganz harten Trainings, großer Disziplin. Keiner will, dass das Klima an der Arbeitsstelle vereist. Keiner will die Verwandtschaft verlieren, die Freunde. Trotzdem: Da entscheidet sich viel. Wir müssen keine Helden sein, aber im Alltag muss man schon mutig werden.
Übernehmt endlich Verantwortung. Die Zeit, in der das alles egal ist, ist vorbei.
Alles richtig, es ist genau so wie Du sagst! Was mich noch interessieren würde – wie kann mensch der angesprochenen Zielgruppe (privilegierte Cis-Hetero-Weiße, so wie ich z.B.) klarmachen, dass Reflexion und Antirassismus und Antiklassismus AM ENDE DES TAGES auch ihnen selbst helfen?
Ich habe mich letztens mit einem „Bro“ aus der Arbeitswelt auf ein Bier getroffen, ich suche neue Freunde (ist Ü40 nicht mehr so einfach). Der war aus Rostock gebürtig, sagte, er könne sich auch vorstellen, dort wieder zu leben. Ich fragte ganz vorsichtig nach, wie das denn da mit den Rechten usw. ist. Er dazu: „Ja die sind da schon sehr rassistisch und ausländerfeindlich, aber ja nicht gegen mich, ich komm ja von da und bin weiß, deswegen könnte ich mir schon vorstellen, da wieder zu leben.“
Den „Bro“ will ich nicht nochmal treffen, aber mir blieb in dem Gespräch echt die Spuke weg, ich konnte nur entgegnen „Naja mir würde es schon reichen zu wissen, dass meine Nachbarn Rassisten sind, um da nicht leben zu wollen, auch wenn die nicht gegen mich rassistisch sind.“ Da hat er mich recht verständnislos angeblicket. Aber was kann mensch da entgegnen, dass auch für solche Leute annehmbar ist? Ich weiß es echt nicht…